Die Stücke:Gender-Theorie und Krisenbewältigung

Lesezeit: 6 min

Die Themenvielfalt des Festivals ist groß und reicht von der ästhetischen Umsetzung aktuellen Zeitgeschehens bis zur radikalen Innenschau

Suna Gürler: "Stören"

"Einen energetischen und klugen Sturmlauf, aufgeladen mit Gender-Theorie" sah ein Kritiker in "Kritische Masse" - einem Abend, den Suna Gürler mit dem Gorki-Jugendclub in Berlin inszenierte. Heute bestellt die 30-Jährige dort auch das große Haus. Ihrem körperlichen Ansatz und dem Thema Rollenklischees ist sie treu geblieben. Stilistisch abgefärbt hat da sicher, dass Gürler in den gefeierten Full-Power-Inszenierungen Sebastian Nüblings "Und dann kam Mirna" und "Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen" selbst auf der Bühne stand. Nübling wurde schon im Jungen Theater Basel zu Gürlers Mentor, wo sie als 13-Jährige an ihrem ersten Theaterkurs teilnahm und seit 2011 eigene Projekte inszenierte. Damit gehört sie zur aussterbenden Spezies derjenigen, die über die Theaterpraxis auf den Regiestuhl klettern.

Ihr Stück "Stören" speist sich aus Literatur-, Film- und Blog-Zitaten wie aus der Lebenserfahrung der sechs jungen nicht-professionellen Akteurinnen, die lustvoll und selbstbewusst ein "Narrativ" befragen, das sich erstaunlich durchgesetzt hat: dass Frauen beständig damit rechnen müssen, begrapscht und vergewaltigt zu werden (Samstag, 29. April, 19.30 Uhr).

Nora Abdel-Maksoud: "The Making-of"

"Seit ich 15 bin, warte ich auf eine Jugendbewegung", sagte Nora Abdel-Maksoud vor einigen Jahren. Da hatte sie längst damit angefangen, wenigstens die Welt der Bühne mit dem anzureichern, was sie in der Realität vermisste: Als Schauspielerin waren das jene Frauenrollen, um die sich auch die Leonardo DiCaprios dieser Welt reißen würden. Als Autorin hat sie dann als erstes zwei Akteurinnen erfunden, die Lars von Trier (versehentlich), Brigitte Bardot und "die Sehgewohnheiten" töten. Oder - in der Kulturbetriebssatire "Kings", mit der die in München Geborene bei Radikal jung 2015 gastierte - die schräge Grete, "die größte Sensation seit Beuys". Ihr Stück "Sie nannten ihn Tico", eine am Münchner Volkstheater entstandene Verteilungskampfgroteske, ist ein Abend, den man lieben oder hassen muss. Dazwischen geht nicht viel. Abdel-Maksouds neuester Streich heißt "The Making-of", kommt vom Berliner Maxim Gorki Theater und ist in doppelter Mission unterwegs: Ein Film soll entstehen, in dem ein Superheld die Stadt Bottrop-Kirchhellen vor dem bösen Schakal rettet. Und weil wir, die Zuschauer, der Entstehung dieses Films live beiwohnen, geht es auch um "echte" Begegnungen (Sonntag, 30. April, 19.30 Uhr; Montag, 1. Mai, 19.30 Uhr).

Nicolas Charaux: "Das Schloss"

"Ich biete meine handwerkliche Fähigkeit und reagiere auf Stücke." Mit diesem schlichten Satz hat sich Nicolas Charaux dem Münchner Volkstheater angeboten, wo ihm Christian Stückl eine Regiearbeit überließ, ohne zuvor etwas von ihm gesehen zu haben. Gemeinsam mit seiner Seelenverwandten und Bühnenbildnerin Pia Greven zeigte er sich mit Lars Noréns Zimmerschlacht "Dämonen" von einer für einen jungen Regisseur erstaunlich schlanken Seite. Kafkas "Schloss" ist dagegen ein pralles, auch bildlich überbordendes Schauspielerfest, bei dem buchstäblich die ganze Bühne in Bewegung und unverständlichem Wandel ist - ganz wie das bürokratische Terrain, das der Landvermesser K. im Roman zu durchqueren hat. Und jeder der acht weiß geschminkten, sich fast tierhaft gebärdenden Darsteller ist mal K. Vom Zirkus und zeitgenössischen Tanz, aber auch vom via Literatur transportierten "Reichtum des Geistes" ist der 34-jährige Franzose fasziniert. Nicolas Charaux lebt seit 2009 in Wien und hat am dortigen Max Reinhardt Seminar Regie studiert hat. Vor Künstlichkeit auf der Bühne schreckt er nicht zurück, vor Langeweile aber sehr wohl (Mittwoch, 3. Mai, 19.30 Uhr).

Jan Philipp Stange: "Der 2. Mai"

Am Anfang die weltbewegenden Umstürze des Tages und am Ende das Wetter: Die älteste Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen ist seit Jahrzehnten stets gleich strukturiert. Und sie strukturiert offenbar ihrerseits noch immer den Alltag vieler Deutscher und schaltet ihn für 15 Minuten gleich. 20 Uhr! Tagesschau Hauptausgabe! Und 20 Millionen Beine werden hochgelegt. Der in Frankfurt lebende Regisseur, Autor und Performer Jan Philipp Stange hat sich das TV-Ritual vorgenommen, um es als Material für eine Techno-Oper einzusetzen. Stange, dauerhaft auf der Suche danach, "Melancholie und Unterhaltung zusammenzubringen", hat den Theaterabend, der stets nach dem Tag benannt ist, an dem er stattfindet, mit seinem eigenen Studio Naxos und der Hessischen Theaterakademie koproduziert und lässt im aktuellen Fall die Texte der Tagesschau vom 2. Mai 2017 mit leichter Zeitverzögerung von zwei Performern nachsingen. Ebenfalls involviert: Ein ehemaliger hessischer Jugendmeister im Maschineschnellschreiben und ein Rundfunkmitarbeiter. Was dabei herauskommt? "Die Wirklichkeit gerät aus der Fassung", meinte zumindest der NDR (Dienstag, 2. Mai, 19.45 Uhr).

Florian Fischer: "Kroniek oder wie man einen Toten..."

Der Tod selbst spielt die Hauptrolle in Florian Fischers Stück. Am Ende dringt er einem sogar in die Nase: Aus einem mit einer speziellen Essenz beträufelten schwarzen Fächer. Und es ist der Tod von einem, den - wie der Titel des Abends schon ausplaudert - ganze 28 Monate niemand vermisst hat. Wie weit ab vom wirklichen Leben muss die Existenz dieses Menschen schon zuvor gewesen sein? Aber werden wir am Ende nicht alle exakt genauso riechen, wenn die Verwesung unsere mehr oder weniger liebevoll gepflegten Gebeine zerfrisst? Florian Fischer ist eine Forschernatur - und einer von denen, die sich ihre Stücke selber bauen. Sein Studium an der Otto-Falckenberg-Schule schloss er mit "Der Fall M. - eine Psychiatriegeschichte" ab. Zuvor schon holte ihn Johan Simons als Assistent an die Münchner Kammerspiele und später nach Gent, wo auch "Kroniek oder wie man einen Toten im Apartment nebenan für 28 Monate vergisst" entstanden ist: "Ein hundertfünfminütiges Memento mori. Ein Totentanz der stillsten Art", schreibt C. Bernd Sucher im Festivalmagazin. Und das mit dem Tanz ist durchaus wörtlich zu verstehen (Samstag, 6. Mai, 17 und 21 Uhr).

Pinar Karabulut: "Gott wartet an der Haltestelle"

Zu Beginn hört man im Theater eine Bombe ticken. Der Terror ist mitten unter uns. Die mörderische Explosion aber findet in Pinar Karabuluts Inszenierung gespenstisch leise statt. In "Gott wartet an der Haltestelle" treffen sich an einem Grenzübergang eine israelische Soldatin, die aus Mitleid die Vorschriften missachtet, und eine palästinensische Selbstmord-Attentäterin, deren Geschichte in Rückblenden enthüllt wird. In einer rasanten Szenencollage zeigt Karabulut die fatale Verkettung von Ereignissen, durch die eine Krankenschwester zur Terroristin wird. Die 1987 in Mönchengladbach geborene Regisseurin, die 2015 mit Jonas Hassen Khemiris Integrations-Farce "Invasion!" schon einmal bei "Radikal jung" zu Gast war und am Volkstheater mit "Dogtown Munich" eine lustvoll durchgeknallte Achternbusch-Uraufführung präsentierte, sucht immer wieder nach einer möglichst unmittelbaren Form für zeitrelevante politische Stoffe. Karabulut, schrieb ein Kritiker nach der Premiere von Maya Arad Yasurs Stück in Dresden, haue den Zuschauern "die Fetzen eines Dramas wie Schrapnelle um die Ohren" (Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr; Freitag, 5. Mai, 17 und 21 Uhr).

Leonie Böhm: "Nathan die Weise"

Schon der Titel des Stücks unterstreicht den diesjährigen Schwerpunkt des Festivals: "Nathan die Weise" heißt das Gastspiel des Thalia Theaters, in dem Leonie Böhm Lessings Klassiker ironisch aufmischt und aus weiblicher Perspektive radikal neu liest. Im Zentrum von Böhms "Emanzipationsstück für alle Laienpredigerinnen" steht nicht der alte Nathan, sondern dessen Ziehtochter Recha, die sich von seiner entmündigenden Fürsorge befreit. Die Regisseurin, Performerin und bildende Künstlerin, deren Arbeiten stark auf Improvisationen basieren, hat das Ideendrama, dessen Handlung in einem gerappten Monolog zusammengefasst wird, auf drei Figuren reduziert. Die Frage nach der Gleichwertigkeit der Religionen tritt bei ihr in den Hintergrund. Stattdessen inszeniert sie ein postmodernes Spiel um Geschlechterzuschreibungen mit fließenden Identitäten. Dass darin der berühmte Ring schließlich einer Tochter zufällt, ist wenig verwunderlich. Wie bereits mit der im Rahmen ihres Studiums entstandenen, ausschließlich mit Männern besetzten Horváth-Inszenierung "Kasimir und Karoline" gelang der 34-Jährigen mit ihrer gewitzten Lessing-Dekonstruktion in Hamburg ein Publikumshit (Freitag, 28. April, 19.30 Uhr).

Samira Elagoz: "Cock, cock ... Who's there?"

Es dürfte die verstörendste und heiß diskutierteste Aufführung des Festivals werden. Mit "Cock, cock... Who's There?" hat Samira Elagoz versucht, ihre zweifache Vergewaltigung zu verarbeiten und ihre sexuelle Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Entstanden ist eine intime Performance über Sexualität und Gewalt im Grenzbereich zwischen Dokumentation und Fiktion. Als "eine unkonventionelle Form der Traumabewältigung" versteht die finnisch-ägyptische Künstlerin, die in Amsterdam Choreografie studiert hat, ihre Arbeit. Per Video wird man Zeuge, wie sie den Jahrestag ihrer Vergewaltigung begeht, sieht die Reaktionen ihrer Familie und Freunde und die Ergebnisse einer Mischung aus Selbstversuch und Recherche. Drei Jahre lang hat Elagoz auf Dating-Plattformen den Kontakt mit Männern gesucht und die virtuellen und realen Begegnungen gefilmt. Sie betrachte sich, erklärte sie in einem Interview, als "Verhaltensforscherin", die untersucht, "wie Geschlechterrollen funktionieren". Nach wie vor würden Frauen gern von Männern als passive Wesen und Opfer dargestellt. "Ich drehe die Positionen um. Ich porträtiere Männer und zeige, dass Weiblichkeit auch Macht impliziert" (Sonntag, 7. Mai, 19.30 Uhr).

Johanna Louise Witt: "Wenn die Rolle singt ..."

"Einfach zauberhaft" findet Festival-Leiter Kilian Engels die kleine Hamburger Produktion, der er große Chancen auf den Publikumspreis zuspricht. Mit "Wenn die Rolle singt oder Der vollkommene Angler" stellt Johanna Louise Witt, die als Regieassistentin am Thalia Theater arbeitet, ihre erste eigenständige Inszenierung vor. Eigentlich klingt das Thema ganz und gar nicht prickelnd. In dem selbstgebastelten Stück treffen sich Jürgen und Marcel, zwei kauzige Männergestalten, im Vereinsheim des ASV-Petri-Heil-Butt. Sie philosophieren über das Leben, die Welt, das Theater und die Fische, tanzen und singen Schuberts Lied von der Forelle auf Deutsch, Englisch, Chinesisch, Finnisch und Koreanisch. Sie reden über die Otterjagd, streiten sich, führen ins Anglerlatein ein und durch die Historie ihrer Passion, Sinnbild des Scheiterns und des Prinzips Hoffnung. Zwischendrin warten sie nachts an einem See mit Anglergeduld darauf, dass irgendetwas anbeißt. Langweilig aber, versichert Engels, wird einem an diesem sehr musikalischen und irre komischen Abend nie. (Montag, 1. Mai, 20 Uhr; Dienstag, 2. Mai, 17 und 21 Uhr; Mittwoch, 3. Mai, 20 Uhr). Sabine Leucht, Petra Hallmayer

© SZ vom 28.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: