Die ideologische Heimat Adolf Hitlers:Die Geburt des Rechtsextremismus

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Autor Stefan Breuer beleuchtet die völkischen Bewegung auf ihrem langen Weg zur Ideologie der Nationalsozialisten - ein anspruchsvolles Standardwerk.

Hans Mommsen

Wer die Ideologie des Nationalsozialismus ergründen will, tut gut daran, sie in den Dunstkreis des völkischen Denkens seit dem Wilhelminischen Kaiserreich einzuordnen, den Breuers brillante Analyse erschließt.

SA-Männer blockieren ein jüdisches Geschäft: In der Fokussierung der NS-Ideologie auf die "Judenfrage" spiegelte sich die intellektuelle Verarmung des NS-Regimes. (Foto: Foto: dpa)

Er geht davon aus, den Begriff des Völkischen und die ihm zuzuordnende Plethora völkischer Parteien, Verbände und Gesinnungsgemeinschaften vom "alten" Nationalismus wie dem Rassismus abzugrenzen. Als Bestimmungskriterien macht er "die zwiespältige Haltung gegenüber der Moderne", mithin die "Kritik der reflexiven Modernisierung" und die damit verbundene defensive Mittelstandsideologie aus, sowie eine Hypostasierung des Volksgedankens.

Schillernde völkische Gruppierungen

Breuer wendet sich gegen den verbreiteten Irrtum, den daraus hervorgehenden "völkischen Rechtsnationalismus" mit Rassismus gleichzusetzen und betont, dass die Völkischen trotz aller Anleihen bei den Rassetheorien und antisemitischen Ressentiments stets Nation und Volk, also ethnischen Kategorien, den Vorzug gegeben haben.

Die im einzelnen vielfältig schillernden völkischen Gruppierungen rekrutierten sich aus den Verlierergruppen der Auflösung des "alten" Mittelstandes, die sich gerade im Kaiserreich im Zuge der raschen Industrialisierung vollzog.

Im ersten Teil des Buches entwirft Breuer das Kaleidoskop der völkischen Bestrebungen im Kaiserreich. Aus der frühen antisemitischen Bewegung mit Adolf Stoecker, Wilhelm Marr und Eugen Dühring als Exponenten hervorgehend, fand der völkische Diskurs, den vor allem Bernhard Förster und Otto Glagau ins Leben riefen, in einer Vielzahl von Vereinen und Dachverbänden, Parteien und Gesinnungsgemeinschaften Ausdruck.

Anti-modernistische Mittelstandsideologie

Unter der Führung Theodor Fritschs kam es zu ersten Konzentrationsbestrebungen, so zur Gründung der "Deutschen antisemitischen Vereinigung" in Kassel 1886 und zwei Jahre später der Deutschsozialen Partei, die dann als Deutsche Reformpartei figurierte.

Breuer weist darauf hin, dass in deren Programmatik der Antisemitismus aufs engste mit einer anti-modernistischen Mittelstandsideologie verknüpft war.

Breuer, der in Hamburg Soziologie lehrt, analysiert Entstehung, Rekrutierungsfeld, Programmatik und die rückläufige Wahlbewegung der Deutschen Reformpartei, ihre Verbindungen zur Kolonialbewegung und zum Alldeutschen Verband.

Das Schwächemoment dieser "überstürzt zur Partei mutierten Gesinnungsgemeinschaft" habe es ihr erschwert, parlamentarische Koalitionen einzugehen, das Dreiklassenwahlrecht sie benachteiligt.

Isolierung radikaler Vorkämpfer

Die Anlehnung an den "Bund der Landwirte" und der Kampf um die konservativen Wähler bewirkten eine fortschreitende Isolierung der radikalen Vorkämpfer wie Hermann Ahlwardt und Otto Böckel und ließen die antisemitische Programmatik des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes (DHV) gegenüber den sozialpolitischen Belangen zurücktreten.

Daher ging, so Breuer, die parteibildende Kraft der Völkischen nach der Jahrhundertwende zurück, so dass sie dazu übergingen, durch die Bildung völkischer Gesinnungsgemeinschaften - so den "Germanenorden" Friedrich Langes oder den "Reichshammerbund" Theodor Fritschs - eine "Kulturrevolution von rechts" zu betreiben.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie sich die völkische Bewegung zwischen den beiden Weltkriegen entwickelte.

So ergab sich eine enge Verbindung zur Lebensreform, zum Siedlungsgedanken und zur Nordischen Bewegung.

Breuer schildert detailliert die Vielzahl dieser Gesinnungsvereine, die sich überwiegend aus Halbintellektuellen der Oberschicht rekrutierten, welche selbst durchweg vom sozialen Abstieg bedroht waren und auf die Max Webers Kategorie eines "proletariden Intellektualismus" zutrifft.

Unruhemoment

Dazu gehören auch Bestrebungen wie das Deutschchristentum. Der Autor betont die Breite des ideologischen Spektrums, das Sympathien für den Existentialismus und eine ausgeprägt ästhetisierende Komponente einschließt, und erblickt in dessen Vielfarbigkeit ein "Unruhemoment", das die völkische Bewegung in das sonst so selbstgewisse Kaiserreich einbringt.

Im Ersten Weltkrieg verkam sie jedoch zum Juniorpartner des "alten Nationalismus", so der "Deutschen Vaterlandspartei".

Im zweiten Teil behandelt Breuer die Entwicklung der völkischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit. Er zeigt, dass sie nach 1918/19 den Tiefpunkt der Kriegszeit überraschend schnell überwand und, namentlich aufgrund der Beteiligung der Studentenschaft, einen spektakulären Aufschwung innerhalb des "Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutz-Bundes" nahm, der allerdings schon vor dem Verbot von 1922 abbrach.

Dabei blieb freilich der Einfluss des Alldeutschen Verbandes und des von ihm beeinflussten "Germanenordens" und der "Thulegesellschaft" beträchtlich.

Wissenschaftliches Neuland

Indessen zeigt Breuer, dass sich das soziale Einzugsfeld trotz des Anwachsens der Mitgliedschaft auf bis zu 200.000 nicht veränderte, dass trotz aller Werbeanstrengungen der Anteil an Landwirten und Arbeitern insignifikant und damit die Mittelstandsorientierung trotz anderer Ziele der Führung erhalten blieb, was an der sich verschärfenden Spannung zwischen dem pseudosozialistischen Flügel unter Dietrich Eckart und Gottried Feder und den Altnationalisten unter Paul Bang nichts änderte, desgleichen an den Konflikten über die durch Hans von Wolzogen favorisierte "Germanisierung des Christentums".

Breuers Darstellung dieses wichtigsten völkischen Verbands schließt sich weitgehend an die verdiente Darstellung von Uwe Lohalm an; mit der daran anschließenden Analyse des "Deutschbunds", der völkischen Regionalparteien und verwandter Vereinigungen wie Otto Dickels "Deutscher Werkgemeinschaft" und Julius Streichers "Deutschsozialistischer Partei" betritt der Verfasser überwiegend wissenschaftliches Neuland.

Deutschbund als Vorfeldorganisation der NSDAP

Der "Deutschbund" als lockere Gemeinschaft deutschvölkischer Bünde nahm Alfred Rosenbergs "Kampfbund für deutsche Kultur" vorweg, entwickelte Initiativen im Bereich der Rassenpolitik, knüpfte Verbindungen zur Lebensreformbewegung und setzt sich für die "Rückkehr aufs Land" und ländliche Siedlung ein. Die enge Verflechtung des vom Deutschbund geschaffenen Netzwerks im mittelständischen und agrarischen Lager, mit bündischer Bewegung oder Erwachsenenbildung lässt ihn ex post als bedeutende Vorfeldorganisation der NSDAP erscheinen.

Ähnliches ergibt Breuers Analyse für die völkischen Regionalparteien, so Alfred Brunners Deutschsozialistische Partei und die Vereinigten Vaterländischen Verbände, "Zwischenwirte" für spätere rechtsextreme Organisationen.

Er betont, dass es der völkischen Opposition in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) nicht gelang, sich darin zu behaupten, sodass die Abspaltung der Deutschvölkischen Freiheitspartei 1922 unvermeidlich erscheint.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie Breuers Buch die Fokussierung der NS-Ideologie auf die "Judenfrage" und den Ostraumgedanken begreiflich macht.

Sie führte zwar nicht zur völligen Ausschaltung der radikalen Antisemiten in der DNVP, aber die antisemitische Agitation trat zunehmend zugunsten der agrarischen Massenmobilisierung zurück, ohne dass die Deutschvölkischen, in der Tradition der wilhelminischen Honoratiorenparteien befangen, die Chance wahrnahmen, trotz spektakulärer Erfolge in den Reichstagswahlen von 1924 sich gegenüber der Mutterpartei durchzusetzen.

Nach dem Fiasko Ludendorffs im Präsidentschaftswahlkampf von 1925 verlor die Freiheitspartei vollends ihren Wählerrückhalt und vermochte die Austrittswelle zugunsten der NSDAP nicht mehr zu stoppen, die sich als siegreicher Erbe des völkischen Organisationstypus erwies. Auch die völkischen Gruppen der bündischen Jugend, vor allem der "Hochschulring deutscher Art", gingen schließlich in den NS-Organisationen auf.

Rhetorischer Sozialismus

Abschließend behandelt Breuer die Rolle der Völkischen in der NSDAP. Wie die deutschvölkische Bewegung war die NSDAP im gleichen "Rechtsextremismus" der Mitte verwurzelt, und in programmatischer Hinsicht gab es, so Breuer, "zahllose Übereinstimmungen".

Organisationsgeschichtlich ging die DAP auf die völkische "Thulegesellschaft", den "Germanenorden" und die Geheimorganisation des "Reichshammerbundes" zurück, und ihr Führungspersonal entstammte durchweg den völkischen Verbänden.

Von ihnen unterschied sich die völkische Führungsgruppe in der NSDAP durch ihren radikalen Antibolschewismus und ihre anti-jüdisch akzentuierte Kapitalismuskritik, wobei die politischen Defizite ihres überwiegend rhetorischen Sozialismus, der mit einem vehementen Antiklerikalismus sowie rassenhygienischen und ostraumpolitischen Ideen zusammenging, klar zutage liegen.

Flügelkämpfe

Dass sich trotz der mit Händen zu greifenden Kontinuität zwischen völkischer Bewegung und NSDAP deren Exponenten in der NS-Bewegung nicht durchsetzten, ging, wie Breuer eindringlich darlegt, auf die von Hitler der Partei aufgezwungene Führerherrschaft zurück, welche die Gründerväter zu Randfiguren machte, sie ausschloss oder durch Unvereinbarkeitsbeschlüsse die kollektive Mitgliedschaft völkischer Zirkel verhinderte.

Es war die Unterbindung programmatischer Flügelkämpfe, die es der NSDAP - im Unterschied zum völkischen Nationalismus - ermöglichte, seit dem Frühjahr 1929 den Durchbruch zur Unterstützung durch die ländliche Bevölkerung und schließlich auch beträchtliche Teile der Arbeiterschaft zu erreichen.

Die wenigen in der NS-Bewegung verbleibenden völkischen Führungsfiguren wurden nach und nach ausgeschaltet, desgleichen die NS-Hago und die Anhänger der völkischen Ganzheitslehre.

Relativierende Einschätzung des Antisemitismus

Auch die aus völkischer Wurzel stammende "Glaubensbewegung Deutsche Christen" ließ Hitler sang- und klanglos fallen, ebenso wie er die völkischen Ideologen stilllegte und die Vorkämpfer des Nordismus und der "nordischen Kunst" belächelte. Taktisch bedingt war die Tolerierung der "Deutschen Glaubensbewegung" Mathilde Ludendorffs.

Der Verfasser verzichtet auf ein zusammenfassendes Fazit. Aber seine Ergebnisse sind klar: sie korrigieren die herrschende Meinung in vielen Punkten. Das gilt auch für die relativierende Einschätzung des Antisemitismus in der Weimarer Republik, die sich von der Studie von Dirk Walter klar abhebt.

Wichtig ist sein Nachweis, dass der Rassenantisemitismus im ideologischen Potpourri des ursprünglichen völkischen Nationalismus eher eine Nebenrolle gespielt hat.

Stefan Breuers Analyse macht es begreiflich, warum es im Zusammenhang mit der sich seit 1934 vollziehenden systematischen Zurückdrängung der völkischen Ideenwelt zur Fokussierung der NS-Ideologie auf die "Judenfrage" und den Ostraumgedanken kam, worin sich auch die intellektuelle Verarmung des NS-Regimes spiegelt.

Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008. 294 Seiten, 49,90 Euro.

© SZ vom 17.6.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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