Damals, in Templin, im Joachimsthalschen Gymnasium, diente während der letzten Kriegsjahre das eigentlich wertneutrale Adjektiv "typisch" als schnoddriges Pennäler-Schimpfwort. Alles, was unsere Lehrer an Ordnendem oder organisatorisch Eingreifendem wollten, fanden wir "typisch": Verächtlich "typisch" für sie und ihre belästigende Denkweise. Begründungen, warum, inwiefern dergleichen "typisch" sei, schienen uns hochmütigen Heimschülern überflüssig.
Seither ist das ominöse Adjektiv keineswegs ausgestorben. Es provoziert in verschiedenen Zusammenhängen auffallend unterschiedliche Reaktionen. Nennt jemand eine Verhaltensweise typisch englisch, typisch kleinbürgerlich, typisch texanisch, typisch protestantisch oder puritanisch - dann hören wir dem Sprechenden mehr oder weniger interessiert zu.
Warten auf seine, jenes angeblich Typische erläuternden, Argumente. Wird indessen eine Attitüde als typisch weiblich bezeichnet oder gar als typisch jüdisch - dann zuckt jeder sensible Zuhörer zusammen, zumal wenn es ein halbwegs aufgeklärter, halbwegs an unserer schlimmen Vergangenheit leidender (typischer) intellektueller Nachkriegs-Deutscher ist. Ein Abwehr-Impuls gegen Machismo, Rassismus, Antisemitismus lodert in ihm auf. Mit aggressiven Pauschalurteilen oder diffamierenden Verallgemeinerungen will er nichts zu tun haben.
Aber alles Leben und soziale Reagieren bedarf auch der unmittelbaren Verallgemeinerung von punktuellen Erfahrungen oder Beobachtungen. Es kommt nur eben entscheidend darauf an, wie man damit umgeht. Rücken wir also beklommen dem "typisch jüdisch" zu Leibe.
Verhält sich nicht stumpfsinniger und bornierter, wer beispielsweise die Existenz des charakteristischen jüdischen Witzes vorsichtig wegzuleugnen sucht - als wer einräumt, dass es zweifellos typisch jüdische Witze gäbe. Und zwar in den verschiedensten Tonlagen, ob sie nun von Heinrich Heine, Tante Jolesch, Max Liebermann oder Woody Allen stammen. Dessen Filmen ein kunstferner englischer Rezensent vorwarf, sie seien eigentlich kaum mehr als optisch erzählte Judenwitze . . .
Es war der große, unvergessene Kritiker Friedrich Torberg, der in einem riesigen Essay "Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz" (Zeitschrift "Der Monat" Nr. 167) vor vielen Jahrzehnten demonstrierte, was an heilsgeschichtlicher Tiefe in typisch jüdischen Witzen steckt und wie man sie erzählen sollte. In Salcia Landmanns von Torberg gnadenlos hingerichtetem Buch über den jüdischen Witz, das hierzulande zum Bestseller werden konnte, steht die klassische Geschichte von den vier verschiedenen Reaktionen, die einem jüdischen Witz seitens verschiedener Hörertypen begegnen: seitens des Bauern, der dreimal lacht (wenn man ihm den Witz erzählt, wenn man ihm den Witz erklärt und wenn er den Witz versteht); seitens des Gutsherren, der zweimal lacht (wenn man ihm den Witz erzählt und wenn man ihm den Witz erklärt - denn verstehen wird er ihn nie); seitens des Offiziers, der einmal lacht (wenn man ihm den Witz erzählt - denn erklären lässt er sich ihn nicht und verstehen wird er ihn nicht) und schließlich seitens des Juden . . .
Bei Salcia Landmann heißt es nun: "Erzählt man aber einem Juden einen Witz, so sagt er: ,Den kenn ich schon!" und erzählt dir einen noch besseren." Dazu Torberg: "Nein! Nein!! Erstens ,sagt" er nichts, denn das würde bedeuten, dass er den Witz bis zum Ende anhört - er ,unterbricht" ihn. Zweitens erzählt er keinen ,noch" besseren Witz, denn das würde bedeuten, dass er diesen hier für gut hält - er hält ihn aber für schlecht. Und drittens erzählt er überhaupt keinen ,besseren", denn das würde bedeuten, dass er einen anderen erzählt - er erzählt aber den gleichen Witz anders, weil er überzeugt ist, ihn besser erzählen zu können. In dieser rechthaberischen Überzeugung, in dieser Ungeduld, mit der er dem Partner dazwischenfährt, liegt ja das eigentlich Jüdische der Geschichte, liegt die ganze Pointe. Sie hat unter Salcia Landmanns mörderischem Zugriff gleich dreimal ihre Seele ausgehaucht."
Torberg argumentiert abgründig klug. (Übrigens hege ich die abergläubische Überzeugung, dass es sein Witz war, der meinem Freunde Friedrich Torberg das Leben gekostet hat. Denn zwei Tage vor seinem Tode schrieb er mir, sich auf meinen SZ-Nachruf zu Rudolf Goldschmit beziehend, am 8. November 1979: "Es trifft immer die Falschen. Ich habe so eine lange Liste, aber mich fragt man nicht." Sowas lässt sich der Tod offenbar nicht sagen, ohne Rache zu nehmen.)
Jedem sorgfältigen Leser des Salcia-Landmann-Zitates muss aufgefallen sein: Ob absichtlich oder nicht, Torberg schrieb . . . "liegt ja das eigentlich Jüdische der Geschichte". Und eben nicht: das typisch Jüdische. Ahnte er jenes Aggressions-Potential, dem wir beim Wort "typisch" nachspüren? Wie dem auch sei: Niemals hätte Torberg die (natürlich nicht naturwissenschaftlich beweisbare) Existenz einer unverwechselbaren jüdischen Denkweise geleugnet. Deren Nachtseite Börne an Heine erbitterte, von dem er allen Ernstes am 13. November 1832 schrieb: "Heine ist ein verlorener Mensch: Ich kenne keinen, der verächtlicher wäre . . . Er hat den schlechten Judencharakter, ist ganz ohne Gemüt und liebt nichts und glaubt nichts. Seine Feigheit würde man keinem Weibe verzeihen . . . " Über die jüdischen Kritiker Wiens beschwerte sich Hofmannsthal gleichermaßen erbittert. Indessen tönt Franz Kafkas Analyse des "Mauschelns", wie es in der "kleinen Welt der deutsch-jüdischen Literatur herrscht" (Brief an Max Brod, Juni 1921) herzbewegend genial und anmutig.
Doch diese Anmut stellt eine Ausnahme dar. Normalerweise gehört offenbar zur erörternden Beschreibung des vertrackten, verfluchten "Typischen", des betont Charakteristischen, stets auch ein wenig Abfälligkeit, manchmal sogar Häme und Hass. Clemenceau hatte leider Recht mit seinem Bonmot: "Wenn jemand überhaupt Charakter hat, dann ist es meist ein schlechter."
Wer es gut und friedfertig mit den Menschen meint, dabei aber durchdrungen ist von der überwältigenden Evidenz denkbar verschiedener "typischer" Eigenschaften, der versucht, den unangenehmen Konsequenzen solcher Einsichten vorzubeugen, indem er alles "Werten" untersagt. Wenn man schon mit typischen Unterschieden leben müsse - dann bitte keine Zensuren, sondern Toleranz! Wie sie im programmatischen "Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit" der französischen Revolution zur Maxime geworden ist, zur humanen Säkularisation des Paulinischen "Glaube - Liebe - Hoffnung". Wo wunderbarerweise die Liebe am allerhöchsten bewertet erscheint.
Die menschenfreundliche Forderung, man dürfe bei verschiedenem Typischem niemals werten, bevorzugen, verachten, sie mag versöhnlich klingen und gemeint sein. Vergisst aber eines: Wir Menschen sind sterblich, müssen wählen, womit wir, kurz zu Gast hier auf Erden, liebend und lernend umgehen wollen - und womit nicht. In solcher durch Talent, Sozialisation, Herkunft beeinflussten "Wahl" liegt unvermeidlich auch ein Werten, Verwerfen, Kränken. Wer diesen Überlegungen ausweicht, statt sie couragiert in sein Denken hineinzunehmen und ihnen die wahrlich auch schutzwürdigen Daseins-Rechte der Typisch-Anderen bewusst entgegenzusetzen, der befördert die übliche, gewohnte, feige Doppelexistenz von Sonntagsmoral und ressentimentgeladener Alltags-Raffgier.
Schopenhauer hat einmal behauptet, alle Völker dächten geringschätzig über die Eigenschaften ihrer Nachbarn. Und grimmig hinzugefügt - sie alle hätten damit Recht. Der Alte meinte gewiss nicht, Völker müssten darum wie Raubtiere übereinander herfallen. Sondern trotz aller Differenzen menschlich miteinander umgehen.