Das war die BRD (2):Der Alden-Schuh

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Schöne Schuhe, erwachsene Schuhe, Alden-Schuhe, wie ich heute weiß, voller edler Lochlitzen, Ösen und kleiner Punzierungen. Es war die Zeit, in der das Wort "Halbschuhe" noch am Leben war und so klang wie "Halbblut" oder "halbstark".

ROGER WILLEMSEN

(SZ vom 04.12.2000) - Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Wo der Bäcker die Brötchen in der Früh vor die Tür warf und die Mütter zur Kirmes mit dem Fahnenschwenker des Spielmannszuges auf der Straße tanzen mussten. Zum Haareschneiden besuchte man den Dorffriseur, einem schweigsamen Trinker, der nur am Fußballfeld manchmal die Fassung verlor und dann entfernt werden musste. Wie beschreibt man einem Friseur den gewünschten Haarschnitt? "Du sagst: Der übliche Facon-Schnitt", assistierte meine Mutter. Weder ich noch der Friseur wussten, was ein "Facon-Schnitt" ist, aber das änderte nichts am Ergebnis: Er schor mir auf die immergleiche Weise den Schopf, und weil ich mich genierte, ließ ich den Kopf gesenkt und beobachtete, wie seine Schuhe durch meine Locken wateten.

Um den Schuh geht´s: Diese Schuhe, sagt Heidegger, sind nicht einfach die malerische Repräsentation eines "Zeugs" oder Arbeitsgeräts, sie sind ein Residuum der Geschichte. (Foto: N/A)

Schöne Schuhe, erwachsene Schuhe, Alden-Schuhe, wie ich heute weiß, voller edler Lochlitzen, Ösen und kleiner Punzierungen. Es war die Zeit, in der das Wort "Halbschuhe" noch am Leben war und so klang wie "Halbblut" oder "halbstark". Deshalb blickte ich auf diese Schuhe zwar hinab, doch eigentlich blickte ich zu ihnen auf, gewissermaßen aus der Froschperspektive. Denn damals kamen meine Schuhe von Salamander, weil es dort "Lurchis Abenteuer" gab, das Heft zum Halbschuh, mit Piping, Olm und Unkerich, dem froschgewordenen Hoss Cartwright, und Versen wie: "Dass gesund ein jeder wander', braucht ihr Schuh von Salamander. Lange schallt's am Brunnen noch: Unser Lurchi lebe hoch!"

Dauer der Vollendung

Naja, jedenfalls blieben die Schuhe des Friseurs jahrzehntelang meine Blaue Blume der Fußbekleidung. In meiner Erinnerung saßen sie fremd und edel an seinen Füßen wie ein Adelsprädikat, und im Schaufenster des dörflichen Schusters suchte man sie natürlich vergeblich. Was hätten sie dort auch zu suchen gehabt, diese Meisterstücke angelsächsischer Tradition und Noblesse?

Schon damals existierte eine Kultur der Schuhe. Bata Illic sang "Schuhe so schwer wie Stein" und "Ich hab noch Sand in den Schuhen von Hawai", und als er später mit "Meine Schuhe, deine Schuhe" herauskam, glaubte ich kurzfristig an die innige Verbindung zwischen Showgeschäft und Schuhgeschäft. Vermutlich war er auch der Begründer der Kette "Bata". Denn dort waren die Schuhe wie er: Zwischen "transsilvanisch schaurig" und "von zeitlosem Design". Jedenfalls waren damals die Ladenketten noch wichtiger als die Marken.

Es sollten viele Jahre bis zur Alden-Reife vergehen, Jahre, die ich mit gesichtslosen Slippern von "Schuh Spath", dem Bonner Fachgeschäft für Übergrößen, überbrückte: "Sie leben auf großem Fuße", pflegte der Zwei-Meter-hohe Verkäufer jedes Mal zu sagen, zu jedem. Damals hatte ich Schuhgröße 46. Nach Tschernobyl sind meine Füße dann auf 45 geschrumpft. Trotzdem kann mein lieber Freund Hans heute immer noch mit seinen Schuhen komplett in meinen verschwinden wie in einem Futteral.

Ein paar Jahre brachte ich mich dann noch durch mit leichtem, schnell zerschlissenem Schuhzeug aus Italien oder mit Wildledertretern, deren Brandsohle rutschfest und schweißfördernd wirkte. Sie erinnerte mich daran, dass in den galanten Romanen des Restif de la Bretonne aus dem 18. Jahrhundert immer wieder am Schuhzeug geschnüffelt wird, weshalb man in der Sexualwissenschaft diese Vorliebe "Restifismus" nennt. Alden-Schuhe sind nichts für Restifisten.

Vor zehn Jahren war es dann endlich so weit. Vor meiner ersten Sendung auf Premiere kamen dem Sender Zweifel an meinem "Stil". Dieser manifestiere sich zunächst in den Schuhen, hieß es, und auch wenn diese Schuhe in den kommenden Jahren unter dem Tisch blieben und nie das Licht der Fernsehkamera erblicken sollten, wurde mir eine Stylistin zur Seite gestellt mit dem Auftrag, das Dilemma an meinen Füßen zu lösen. Jacqueline wusste sofort, was sie wollte, strebte in ein Fachgeschäft für den englischen Landedelmann und öffnete einen grünen Hartpappekarton, in dem zwischen moosfarbenen Seidenblättern ein eierschalbeiger Flanellsack lag, das Futteral des Klassikers, "Alden's Masterworks", lieferbar als "Wing Tip Bal Oxford", "Long Wing Blucher Oxford" oder "Plain Toe Blucher Oxford", und zwar in den Farben Braun, Schwarz und Aubergine.

Aubergine ist die Farbe für die Blaue Stunde, die Farbe, mit der man sich auch um 20 Uhr noch erwischen lassen darf. Diese Schuhe hatten die Füße meines Friseurs geziert, jetzt sollten sie meinen ersten Schritt ins Fernsehen begleiten. Facon Schnitt. Long Wing Blucher. Allwetter-Walker. Und unter dem golden eingeprägten Wappen auf jedem Schuh die Inschrift: "Alden. New England". Auch im fernen Massachusetts weiß man, dass ein Schuh nobler wird, wenn man ein "Oxford" hinzusetzt. "Rule Britannia", sagt man sich dort, regiere unsere Herren-Schuhmode. Das tat sie viele Jahrzehnte lang.

Als Oscar Wilde nach Amerika kam, nannte er sich "Professor für Ästhetik" und "Kleidungsreformer", bedauerte, dass Luther immer so schlecht gekleidet gewesen war, und fand nur bei den Bergarbeitern der Rocky Mountains in ihren schwarz-roten Monturen echten Stil. Sie umarmte er, nachdem er ihnen das Versprechen abgenommen hatte, niemals ihre Arbeitskleidung zu wechseln.

Und was für Schuhzeug werden diese Arbeiter getragen haben? Genau. "Custom Bootmakers since 1884" sind Alden, kein "Appointment by Her Majesty the Queen", sondern gute, reale Stiefel-Hersteller, die die Solidität ihrer Fabrikate mit der konservativen Eleganz britischer Snobs versöhnten und in der Fertigung doppelt genähte Ledersohlen, Kalbslederfutter, feinstes Wildleder oder Lederabsätze mit Gummi-Intarsien verarbeiteten. Zusammengehalten wird das Ganze von einem flexiblen Stahlrahmen, der jeden Detektor am Flughafen zum Ausschlag bringt, sich dem Fuß aber nach einiger Zeit so geschmeidig anpasst, dass er Individuum sein darf. Jeder Alden-Schuh ist ein Solitär, doch in jahrelanger Kohabitation formt er sich mit, so dass er schließlich nur noch an diesem einen Fuß seine volle Wirkung entfaltet.

Und er dauert und dauert.

Erst trug ich mein Paar Alden-Schuhe nur im Studio. Aber das bekam ihnen nicht. Sie blieben steif und feierlich und ihre Oberfläche opak. Dann nahm ich sie mit in die Stadt, zerkratzte die Sohle auf dem Asphalt, ließ die Regenwolken über das Deckleder ziehen, schlurfte im Wald durch Pfützen und Laubhaufen und feierte diese ganze Rückreise in die Kindertage mit dem Sinnesorgan der Schuhe, die mir, vielleicht zehnjährig, damals auf dem Boden des Friseurs zuerst begegnet waren.

Allmählich bekamen meine Aldens Falten, dann wurde eine Physiognomie daraus, am Ende hatten sie Charakter und heute, zehn Jahre nach ihrer Anschaffung, müssten sie eigentlich ihr Gnadenbrot bekommen und an Materialermüdung leiden. Statt dessen sahen sie nie besser aus als heute. Im Alter sind sie wie von innen errötet, ihr Aubergineton ist noch tiefer, ihre Patina in mehreren Schichten so durchsichtig, als hätte Tizian eine Komposition in Rot mit hundert Lasuren überzogen, und man könnte durch die obersten Schichten hindurch irgendwo bis auf den Grund des Leders sehen.

Und nicht genug von solcher archäologischen Sentimentalität. Im Innern des Schuhs hat der Hersteller - ein Arbeiter mit Kittelschürze? eine schweigsam arbeitende Directrice? - mit schwarzer Tinte eigenhändig ein paar Runen und Zahlen auf dem weichen Leder der Fütterung hinterlassen, eigentlich eine Höhlenmalerei, die an die Kreidenotate der Dreikönigssinger auf dem Balken über der Tür erinnert. Jedenfalls eine Signatur, eine persönliche Hinterlassenschaft der Handarbeiter, eine Geheimschrift, vermutlich geeignet, den Schuh auf der einen Seite bis zu mir, auf der anderen bis zum Kalb zurückzuverfolgen.

Heidegger und das Zeugs

Heute sind diese Schuhe keine Schuhe mehr, sondern die Manifestation der Jahre, die über sie dahingegangen sind. In Heideggers Aufsatz über das Wesen des Kunstwerks gibt es eine Passage über das Bild der Bauernschuhe von Van Gogh. Diese Schuhe, sagt Heidegger, sind nicht einfach die malerische Repräsentation eines "Zeugs" oder Arbeitsgeräts, sie sind ein Residuum der Geschichte. In ihnen malt Van Gogh nicht das Leder, das Schnürbändel, die Ösen, die Falten des Spanns, er malt den blinden Griff des Bauern in der Früh, wenn er noch schlaftrunken nach seinen Stiefeln greift, malt die stumme Wiederholung dieses Griffs, die Ewigkeit der Strapaze, die der Schuh für den Bauern und mit ihm erleidet.

Jeder in Würde alt gewordene Gegenstand trägt diese Zeichnung und gibt so seine Geschichte preis. Aber heute werden die Gegenstände nicht mehr in Würde alt. Sie welken kaum und zerfallen abrupt. Wenn man aber einen Alden-Schuh besitzt, dann hat man etwas, das man täglich belasten kann, und das einem doch beim Altwerden Gesellschaft leistet, weil es selbst nicht spurlos älter wird. Alden-Schuhe kann man einschicken, dann werden sie in den Nähten erneuert und erhalten ein frisches Innenleben, aber der Schuh, der mit dem Fuß alternde Schuh, er bleibt, bis sein Besitzer mit den bloßen Füßen zuerst an ihm vorbeigetragen wird. So bleibt er zurück. Nicht umsonst findet sich auf alten Gemälden ein Paar Schuhe oft als Symbol für Treue: Aldens Ahnen, I suppose.

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