In den frühen neunziger Jahren gehörte der Autor des folgenden Textes, der Computerwissenschaftler und Musiker Jaron Lanier, zu den Visionären einer digitalen Kultur. Er unterrichtete Computerwissenschaften an der Columbia University, in Yale und an der New York University. Ende der Neunziger leitete er den Aufbau des akademischen Internet 2. Als Musiker arbeitete Lanier unter anderem mit Philip Glass, Ornette Coleman und George Clinton. Den Essay "Digital Maoism" verfasste Lanier für die Serie "Original Edge Essays" des Onlineforums www.edge.org. Dort löste der Text eine heftige Debatte über die kulturellen Qualitäten des Internets aus, in die sich die Wikipediagründer Larry Sanger und Jimmy Wales, die Computerforscherin Esther Dyson und der Medientheoretiker Douglas Rushkoff eingeschaltet haben. / SZ
Die beste Methode, einen Schwarmgeist zu beobachten, der fast immer dumm und langweilig ist.
Wer meinen Namen im kollektiv verfassten Onlinelexikon Wikipedia nachschlägt, erfährt, dass ich Filmregisseur bin. Ich habe zwar vor gut 15 Jahren einen Experimentalfilm gedreht, der allerdings nur ein einziges Mal auf einem Festival gezeigt wurde, und es ist mir ganz recht, dass man ihn wahrscheinlich niemals wieder sehen wird. Jedes Mal wenn mein Wikipedia-Eintrag korrigiert wird, verwandele ich mich allerdings innerhalb kürzester Zeit wieder in einen Filmregisseur. In den vergangenen Wochen haben mich gleich zwei Reporter zu meiner Karriere als Filmemacher befragt.
Nun gibt es Schlimmeres, und ich habe mit Wikipedia auch kein Problem. Es stellt lediglich ein Experiment dar, das sich enorm verändern und entwickeln kann. Das Problem ist vielmehr, wie wichtig und ernst Wikipedia nach kurzer Zeit genommen wurde. Das ist ein Beleg für den Siegeszug eines Online-Kollektivismus, der nichts anderes bedeutet, als die Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv über eine allwissende Weisheit verfügt, die man zentral bündeln und lenken muss. Dies ist das Gegenteil von Demokratie und Meritokratie. Wenn die extreme Rechte oder die extreme Linke in der Vergangenheit versucht hat, uns diese Idee aufzuzwingen, hatte das jedes Mal grausame Konsequenzen. Dass uns heute prominente Technologen und Futuristen diese Idee nahe bringen wollen, macht sie nicht ungefährlicher.