Das Leben der Anderen:Wie geleckt

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In unserer Kolumne "Das Leben der Anderen" rezensieren wir den Clip der Woche - jeden Donnerstag um elf Uhr. Heute: "extreme photo retouching"

Christian Kortmann

Verwirrung und Kummer befallen den, der sein Leben mit medial abgebildeten Leben vergleicht. Denn die Lüge erzeugt in den Medien eine höhere Wahrheit: Dinge sind möglich, von denen man in der Realität nur träumen kann; Maßstäbe werden gesetzt, die unerreichbar sind. So wurde die Schauspielerin Sharon Stone kürzlich zum Gesicht der Werbekampagne für eine Anti-Aging-Creme und sah auf den Fotos wie in den Spots fünfundzwanzigjähriger aus als je zuvor. Hier wurde die Grenze zwischen Kunst und Leben augenfällig: Es gibt eine digital-mediale Sharon und ihre analoge Doppelgängerin Frau Stone, die aussieht wie eine 48-jährige Frau und auch mal einen "bad hair day" hat. Boulevard-Fans wissen, dass Paparazzi längst einen Sport daraus gemacht haben, Prominente in unvorteilhaften Momenten abzulichten.

Unser heutiger Clip mit dem Titel "extreme photo retouching" zeigt die Genesis der durch Manipulation erzeugten Ideale menschlicher Schönheit, die täglich aus Printmedien, dem Internet und zunehmend auch aus dem Kino und dem Fernsehen auf uns einprasseln. Viele kleine Krater hinterlassen diese extraterrestrischen Beauty-Meteoriten auf der Netzhaut, so dass es manchem die Wahrnehmung trübt und er Menschen hässlich und unsauber findet, wenn sie einfach nur normal aussehen.

Der Sauberlehrling

Oft ist in der Welt der Internetvideos unklar, wer der Urheber eines Films ist und was er uns mit seinem Werk sagen will. Diesmal wissen wir über die Quelle Bescheid: "extreme photo retouching" stammt vom Fotografen und Retoucheur Rodrigo Bressane, dessen Medienagentur hauptsächlich für Kunden in Brasilien tätig ist. Mit diesem Clip macht der Sauberlehrling Bressane also Werbung für seine Arbeit, und man kann zu Recht fragen: Handelt es sich überhaupt noch um einen schmutzigen kleinen Internetfilm?

Ja, denn "schmutzig" meint weniger die Machart als die Uneindeutigkeit von Genre und Botschaft. Der kommunikative Zweck ist nicht klar zu definieren: Sicher wird der Clip auf dem YouTube-Portal auch von potentiellen Bressane-Kunden gesehen, aber seine aufklärerische Wirkung überwiegt. Denn der User kann den Clip ebenso gut gegen den Strich rezipieren - als Werkstattbericht aus der Welt der digitalen Bildmanipulation: Nasen werden verschoben, Falten geglättet, Mundwinkel angehoben, Pickel verschwinden von Zauberhand, Lippen werden rot und röter und Augen dem Kindchenschema angepasst.

Die Filmmusik von Rig hat Untiefen, tiefe Streicher beunruhigen unter freudig-entspannter Perkussion, und man ertappt sich dabei, dass man die Menschen für ihre natürlichen Makel bedauert. Doch ist vielleicht auch deren Naturzustand von Bressane manipuliert worden, um einen krassen Vorher-Nachher-Effekt zu erzielen? Wir wissen es nicht - wie viel Wahrheit steckt heute noch in einem Foto?

Hat man die medialen Schichten erst einmal abgeschält, kann man aus dem Clip etwas fürs Leben lernen. "extreme photo retouching" entlarvt, wie die Beauty & Fashion-Matrix um uns herum konstruiert wird: Dass wir ihre digitalen Geschöpfe für lebendige Menschen halten, ist die "Final Fantasy" der Bilderfinder. Um gegen den rasenden Fortschritt ihrer Manipulationstechnologie zu bestehen, muss der Konsument seinen Analyseapparat stetig aufrüsten. Wie man sieht, kann YouTube dabei die Funktion eines Tele-Kollegs haben: Die Lektion, die der Clip "extreme photo retouching" erteilt, ist elementar für ein aufgeklärtes Manövrieren im visuellen und virtuellen Raum.

Unsere Skepsis gegenüber den Bildern hat gerade erst begonnen.

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