Das Leben der Anderen:Völlig verblasen

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Paris Hilton, Bill Clinton und Boris Becker müssen sich das hier nicht angucken: Es geht um den aufgeklärten Umgang mit Oralverkehr und eine der erotischsten Stellen der Weltliteratur - "Auto-Sex", das Internetvideo der Woche.

Christian Kortmann

Es gehört zu den innersten Kreisen der zeitgenössischen Medienhölle, ungeschützt Fernsehwerbung ausgesetzt zu sein. Gefesselt von einer Tätigkeit (z.B. Abendessen in Spelunken mit Dauer-TV), die es einem nicht erlaubt, um- oder zumindest den Fernsehton abzuschalten, sind TV-Spots nicht zu ertragen.

Für Rasierer, Autos, Waschmittel, Mobilfunk und Monatshygiene wird da geworben, auf unübertreffbar nervige, langweilige und biedere Art. Weggucken allein genügt leider nicht, weil einen auch Sprache und Musik der Spots fertig machen. Das kreative Potential der Werbeagenturen und Filmhochschulabsolventen ist ungleich größer, doch werden ihre Projekte erst durchgewunken, wenn sie sie auf einen Doofheitsgrad heruntermodeln, den auch der Auftraggeber versteht.

So finden sich unter den kleinen schmutzigen Filmen im Internet auch Werbespots, die es nie auf Bildschirm oder Leinwand geschafft haben. "Auto-Sex", unser Internetvideo der Woche, scheint diesem Giftschrank der filmischen Reklame zu entstammen. Es handelt sich um Blanko-Werbung für einen Optiker, die keinem Auftraggeber zuzuordnen ist.

Im Netz wird der Clip wiederholt mit der Optik-Kette Fielmann in Verbindung gebracht. Anruf in der Firmenzentrale in Hamburg: Bei Fielmann kennt man den Spot zwar, hat aber nichts damit zu tun. Es würde ja auch nicht zur eigenen Werbekampagne passen, die sich an soignierte Herren richtet, die auf ihren Geldbeutel achten - am liebsten zeigt man grau-melierte Sparbrötchen beim Angeln.

Doch es wäre schön, wenn sich ein Mainstreamkonzern dazu entschlösse, solch einen Spot zu zeigen. Schließlich leistet er etwas, was längst überfällig ist: einen spielerischen, selbstverständlichen Umgang mit oralem Sex.

Es sich mal eben besorgen lassen

Der Clip "Auto-Sex" ist seiner Zeit voraus, obwohl er ein Lieblingsthema der Gegenwart aufnimmt: Ob Paris Hilton im Hotel Bellagio in Las Vegas, Hugh Grant im Auto auf dem Sunset Strip, Andreas Türck auf einer Frankfurter Brücke, Boris Becker in der Londoner Besenkammer oder Bill Clinton im Türrahmen des Oval Office: Medien und Gesellschaft delektieren sich stets aufs Neue an Affären um Oralverkehr, doch haftet dem "französischen Sex" dabei immer noch der Ruch des Schlampenhaften an. In seiner fantastischsten Volte erklärte Clinton, dass es sich bei Oralverkehr um keinerlei "sexuelle Beziehung" handele: Mächtige Männer lassen es sich halt mal eben besorgen.

Hier besteht ein seltsames Halbtabu fort, obwohl man Fellatio und Cunnilingus ganz nüchtern und unverschwitzt als schöne und liebevolle sexuelle Spielarten einordnen kann. Und genau das tut dieser Film: Er zeigt zwei korrekt gekleidete, junge bürgerliche Menschen, die sich zu klassisch-folkloristischer Gitarrenmusik einer Männer- (und wahrscheinlich auch Frauen-)Fantasie hingeben.

Wir kennen die Ikonografie der Fellatio so gut, dass es die Filmemacher bei Andeutungen belassen und der Film dennoch explizit wirkt. Die Darstellungstechnik des kunstvollen Drumherumerzählens erinnert übrigens an eine der besten Sexszenen der Weltliteratur. In seiner Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas" schildert Arno Schmidt einen Liebesakt, ohne eines der üblichen Signalwörter zu benutzen:

"wir gingen systematisch an die Untersuchung; 'linguistisch' heißt ja wohl 'mit der Zunge'?). / Ich trieb, Brust auf Brust, in ihrem rötlichen Teich; weiße Strünke ragten an allen unsern Ufern, ihr schiefer Schopf klebte mir über der linken Schulter: im Seegras klafften Augenmuscheln; ein Gebiß schwamm heran und fraß sich fest:! daß mein Körper spitzere Wellen schlug: da verschwanden die Emailleringe nach oben; violettbraune Röchelstücke ringelten langsam, neben Einem, mit riesigen Locken."

"Auto-Sex" zeigt eine prickelnde Situation - nichts Schlampiges haftet dieser Szene an, keinerlei Samenraub-Gefahr im Verzug -, bis die Pointe über den irritierten Gesichtsausdruck des Mannes vorbereitet wird. Der Wechsel in der musikalischen Untermalung zu Perkussion und Streichern macht seine Überraschung hörbar.

Mag sein, dass am Ende nicht jeder darüber lachen kann und manche Zuschauerin den Film gar geschmacklos findet. Doch wenn man solch gute Ideen für Pointen hat, muss man sich trauen, einen Witz auch gegen den guten Geschmack zu erzählen.

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