Das Internetvideo der Woche:Rumflippen nach Fahrplan

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Kann ein Schnellzug einen Achterbahn-Looping fahren? Wir haben sehr junge Ingenieure gefunden, die es beweisen - ein visionäres Verkehrskonzept in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Kinder mögen keine Geschichten, in denen es um Kinder geht, die sehr kindlich sind oder sogar für immer Kind bleiben. Deshalb ist "Peter Pan" eine wunderbare Lektüre für Erwachsene, genießt aber bei Kindern nicht den besten Ruf. Sie werden damit nämlich meist von Ü-30ern genervt, die mittels "Peter Pan" ihre eigene Kindheitssehnsucht stillen. Kinder aber träumen im Gegenteil davon, groß zu sein.

Früher, als ich groß war

Und weil sie von den Beschränkungen des Erwachsenseins keinen Schimmer haben, erscheint ihnen dieses als Zustand, in dem alles möglich ist, bis in die Gipfelregionen des Visionären, die mit wachsender Vernunft vor sich hin bröckeln werden.

Früher, als ich groß war - dieses Lebensgefühl vermittelt der Clip "Hydro Train", besonders intensiv beim erstmaligen Anschauen: Man sieht einen Bahndamm, die Handkamera fährt an den Gleisen entlang, planlos, als wüsste der Filmer nicht, was er sucht. Er dokumentiert das Geschehen, sammelt Material, aus dem er später eine Reportage zusammenschneiden könnte.

"Hier sind die Schienen, hier die technischen Zeichnungen", erklärt ihm ein Junge auf Norwegisch. Er und seine Freunde, vielleicht zwischen zehn und zwölf Jahren alt, tragen Streetwear, hängen aber nicht nutzlos ab, sondern arbeiten engagiert an einem (hier gewinnt der in der Businesssprache zum Hohlwort gewordene Begriff seine Bedeutung zurück) Projekt.

Hektisches Gedanken-Ping-Pong

Dieses hat die Gestalt einer auf den Schienen stehenden vertikalen Konstruktion aus Holz und Metall. Die Kinder schweißen und schrauben daran herum: Wird das eine Half-Pipe zum Skateboardfahren? Aber was sollen dann die Schienen, die stören doch nur ... Der Filmer wird gefragt, ob sein Akku noch voll sei - die Jungs wissen, dass gleich Großes passieren wird. Und die Spannung wächst. Einer steht oben im Gerüst, setzt die Schweißbrille ab, und ein entferntes Pfeifen ertönt. "Henrik", ruft ihm ein anderer in typischer Actionfilmwortwahl zu, "schnell, wir müssen hier raus."

Alarmiert die Arme schwenkend läuft ein Junge den Bahndamm entlang - unwillkürlich erinnert die Szene an Rob Reiners Verfilmung des Kindheitsabenteuers "Stand By Me" -, da rast auch schon der Zug auf die Kamera zu und erreicht die Rampe: Hebt er jetzt ab? Nein, jetzt erkennt man, was die Truppe gebaut hat: einen Looping!

Wie in einer Achterbahn saust der Zug hinein und schießt in den Himmel, nimmt die Überkopfpassage und rattert auf der anderen Seite wieder hinunter. "Ein Junge mit Stimmbruchstimme ruft mehrfach begeistert ein Wort, das wie "Jesus" klingt. Der Schnellzug setzt seine Fahrt freudig hupend fort, pünktlich, aber wohl mit weniger amüsierten Passagieren, die sich nach den Turbulenzen über verschüttete Limonade beklagen.

Im ersten Moment ist der Zuschauer wie benommen von der Beweiskraft der Bilder und glaubt, dass das, was er gesehen hat, tatsächlich passiert sein muss. Hektisches Gedanken-Ping-Pong: Warum sollte ein Zug keinen Looping fahren können? - Nein, das geht doch nicht. Dann weicht die Überraschung der Begeisterung darüber, wie gekonnt man überrumpelt worden ist: Die scheinbare Materialsammlung eines Amateurs ist ein professionell durchkomponierter, ungeschnittener Film.

Im Trancerapid

Der kindliche Spaß, etwas zu bauen, zum Beispiel einen Staudamm, wird im Clip "Hydro Train" auf eine höhere Ebene getrieben: Diese surreale Irritation, dass Kinder etwas konstruieren, das mehrere Nummern zu groß für sie ist, wird effektvoll durch den filmästhetischen Kunstgriff gesteigert, in die authentisch-dokumentarische Aufnahme aufwändige Special Effects einzuarbeiten.

In wenig mehr als 30 Sekunden gelingt es dem vor Erzählkraft strotzenden Film, eine komplette phantastische Welt in den Raum zu stellen, mit eigenen Gesetzen, dramaturgischer Spannung und vor allem Witz, der aus der medienreflexiven Haltung resultiert: Durch den vertraut wackeligen Amateurstil führt der Clip den Filmportal-User auf vertrautes Terrain, um ihn zu überwältigen.

Am Ende wird der Zuschauer aufgeklärt, dass es sich um einen Werbespot für ein norwegisches Energie-Unternehmen handelt: "Es gibt viele junge Ingenieure. Wir können nicht warten, bis sie erwachsen sind." Die Kinder auch nicht, aber wenn es so weit ist, wird sie die Gravitation der Realität eingeholt haben und solch kühne Looping-Vision eine immaterielle Idee bleiben. In "Hydro Train" ist sie Wirklichkeit geworden - zumindest viele individuelle Momente lang.

Denn der in seinem längst vergangenen Kindsein berührte Zuschauer wird den Eindruck nicht los, dass dieser Trancerapid in einem Paralleluniversum regelmäßig verkehrt.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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