Das Internetvideo der Woche:Kinderspiele der Supermacht

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Coole Stunts auf der Straße, okay. Doch der beste Sportplatz ist das Chaos einer unaufgeräumten Wohnung: Bier-Pong- und Sonnenbrillen-Akrobaten in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Sie brauchen keinen Golfplatz, keine gepflegten Grüns oder Billardtische, um Ballsport zu treiben, denn sie haben Sessellehnen und Türkanten, über die sie den Tischtennisball mit gekonnten Carambolagen in den Bierbecher hüpfen lassen. Für Beer-Pong-Spieler ist die unaufgeräumte Wohnung der ideale Ort für Sport: Aus der zurückgelehnten Entspannung heraus werden hier die Bälle im Ziel versenkt.

Im Clip "Crazy Beer Pong Shots" fasziniert der entschiedene Wille, ernsthaften Quatsch zu betreiben: Die Jungs entdecken im alltäglichen Chaos, in der Öde der eigenen vier Wände, die sie schon viel zu lange angestarrt haben, die Möglichkeit für ein artistisches Spiel. Das geht über den gelangweilten Angestellten, der im Büro mit zusammengeknüllten DIN-A4-Zetteln Papierkorb-Basketball spielt, weit hinaus. Und es entsteht dabei sogar etwas, das für das Publikum sehenswert ist. In solchen Momenten ist man dankbar für die Existenz von Internetvideos, denn sonst hätte man von der Welt des Bier-Pongs nie etwas erfahren.

Was ist das für ein Raum? Ein Mehrbettzimmer, in dem Schreibtische und Computer herumstehen, Pinup-Poster an den Wänden: Es könnte das Studentenwohnheim einer amerikanischen Universität sein. Denn genau mit solchen Aktivitäten vertreibt sich die Supermacht-Jugend in den Verbindungshäusern der Elite-Unis die Zeit. Man kann die Atmosphäre spüren: Eigentlich müssten die Jungs lernen, einer sitzt sogar konzentriert am Computer, doch die anderen lassen ihm mit ihrem konzeptionellen Quatsch keine Ruhe.

Spezialisten am Werk

Nach Würfen aus der Distanz und über die Schulter kommen die komplizierten Mehrbander. "Tock-Tock-Plong" sondert der Tischtennisball seinen beruhigenden Sound ab, wenn er auf unterschiedliche Materialien trifft - das trockene Holz, der final knackende rote Plastikbecher.

Im Wechsel der starren Kamerapositionen werden jeweils neue Versuchsanordnungen geschaffen: Es gibt Abwechslung in der Perspektive und dennoch wird der Ablauf jedes Wurfes verständlich gezeigt. Die Bilder sind auf den Hip-Hop-Beat zugeschnitten, die Filmemacher holen sich durch Kreativität Popkultur-Coolness in die Bude und werden durch ihre Leistung zu ironischen Star-Darstellern. Ihre Gesten zeigen die ganze Zeit über, dass sie von der Irrelevanz ihrer Handlungen wissen: Sie zelebrieren ihre Miniatur-Erfolge im großen Stil, und dieser Kontrast macht den Clip mehrdeutig und lebendig.

Am Ende wird der Krönungswurf in Zeitlupe gefeiert. Für diesen Clip werden die Studenten eine Menge Zeit verbrannt haben, das Verhältnis von Drehzeit zu Filmlänge dürfte nicht wesentlich unter dem einer Hollywood-Großproduktion liegen - und es hat sich gelohnt.

Während man bei "Crazy Beer Pong Shots" an den dokumentarischen Charakter des Clips glaubt, weil die Tricks im Bereich des Wahrscheinlichen liegen, stellt der Clip "Guy catches glasses with face" das Wahrnehmungsvermögen auf die Probe: Ein Mann wirft einem anderen aus wachsender Entfernung eine Sonnenbrille zu, und dieser fängt sie mit dem Gesicht auf, ja, sie sitzt stets ziemlich korrekt auf der Nase. Zwei Spezialisten sind am Werk, die Werfer- und Fängerrollen sind klar verteilt, und die Freude des Fängers beim Gelingen verdeutlicht die Schwierigkeit des Stunts.

Grenze der Glaubwürdigkeit

Sie müssen in dieser Disziplin schon fortgeschritten sein, weil der Fänger isst oder auf dem Skateboard steht, also absichtlich Komplikationen wie die sich schließende Fahrstuhltür sucht. Der erste Wurf aus zwei Metern Entfernung auf die Couch erscheint noch glaubwürdig, dann wird es immer abwegiger, steigert sich vom Skateboard-Katapult, das von Zirkusakrobaten abgeschaut zu sein scheint, bis zum Gewaltwurf ins fahrende Auto. Dieser wird zwar ebenfalls in Zeitlupe gezeigt wird, ist aber anders als das Meisterwerk der Beer-Pong-Spieler völlig unwahrscheinlich.

"Unbelievable!" Der Werfer schüttelt den Kopf, man selbst auch und wägt die Wahrscheinlichkeiten ab: Sind sie wirklich das Risiko eingegangen, sich eine Sonnenbrille mit voller Wucht ins Auge zu werfen? Was sie da machen, das geht doch nicht... Genau dies macht den Clip interessant. Man schaut ihn sofort noch einmal an, um hinter sein Geheimnis zu kommen.

Im Netz laufen die Spekulationen darauf hinaus, dass der Clip rückwärts gedreht wurde. In jedem Fall ist er hervorragend gemacht. Man könnte sich vorstellen, wie die beiden Männer gelangweilt auf einer Caféterrasse saßen und am Sonnenbrillenbügel nuckelten, sie sich dann mal locker auf die Stirn warfen und daraus die Idee zum filmischen Coup entstand, so könnte man es sich vorstellen, wenn nicht...

Ja, wenn nicht am Ende im Staub auf dem Autofenster die Worte stünden: "Never Hide", der aktuelle Werbeslogan einer Brillenmarke. Es handelt sich bei "Guy catches glasses with face" höchstwahrscheinlich um so genannte virale Werbung, sie sich eben nicht plakativ als solche zu erkennen gibt, sondern im Austausch von User zu User unterschwellig ein Produkt attraktiver machen soll.

Den gleichen Slogan sprüht die Firma momentan auch als Graffiti auf die Trottoirs von Paris - die im offenen Raum der Stadt anonym platzierten Graffiti sind in gewisser Weise ja Vorläufer der Internetvideos. Der Clip "Guy catches glasses with face" ist eine gelungene virale Werbung, weil der Clip das im Netz populäre Beer-Pong-Genre aufnimmt und mit Feingefühl an die Grenze der Glaubwürdigkeit treibt.

Dass dieser scheinbar zweckfreie Clip eine eindeutige Kommunikationsabsicht hat, erinnert daran, dass auch das Internetvideo kein unschuldiges Medium ist. Deshalb gibt es auch keine letzte Gewissheit darüber, ob der studentische "Crazy Beer Pong Shots"-Clip, der am Anfang prominent eine Bierflasche zeigt, nicht nur Teil einer Werbekampagne ist.

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