Das Internetvideo der Woche:Höchste Klötzchenschule

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Er nennt sich Jin8 und beherrscht das Computerspiel Tetris so gut, dass im Großmeister-Level ruhig die Bausteine unsichtbar werden können: der beste Tetris-Spieler der Welt.

Christian Kortmann

Seit 22 Jahren fallen die Bauklötze jetzt vom Himmel: Kaum ein Computerspiel aus den 1980er Jahren ist besser gealtert als Tetris. Und es hat immer noch eine Zukunft, weil es den elementaren Spielspaß von Bauklötzen aus der analogen in die digitale Welt überträgt.

Bei Tetris geht es darum, verschieden geformte Bausteine in Reihen aufeinander zu stapeln. Jede komplett ausgefüllte Reihe verschwindet vom Bildschirm. Von oben fallen neue Steine hinab, die im Vorschaufenster angekündigt werden und vom Spieler gedreht sowie beschleunigt werden können. Der "Hold"-Stein links oben tauscht auf Wunsch den Platz mit dem gerade fallenden.

Man muss also die Struktur des Unterbaus im Blick haben sowie mittelfristig vorausplanen. Nichts wäre einfacher, wenn die Bausteine nicht von Level zu Level schneller fielen, sodass sich Strukturfehler häufen. Erreichen die Steine die Oberkante des Bildschirms, ist das Spiel beendet.

Im Clip "Invisible Tetris" siegt ausnahmsweise nicht das Spiel sondern der Spieler: TGM HOLiC, alias Jin8 (man weiß nicht, welcher von beiden der Künstlername ist) spielt Tetris bis zum Ende durch. Während die meisten guten Internetvideos weniger als zwei Minuten lang sind und oft in wenigen Sekunden auf den Punkt kommen, sind die 6:29 Minuten von "Invisible Tetris" nicht langatmig, sondern notwendig. Zum einen, um die allmähliche Steigerung des Spiels in unbekannte Dimensionen zu demonstrieren, zum anderen, um das Episch-Monomanische der Tetris-Leidenschaft zu verdeutlichen.

Ballett der Finger

Tetris spielt man nämlich oft viele Stunden, ja, Tage lang, bis einem schließlich auch ohne Blick auf den Bildschirm Figuren vor den Augen herumschwirren und eingefügt werden wollen. Ein verwandter Bewusstseinszustand dieses sogenannten Tetris-Effekts besteht darin, dass man in der Realität plötzlich Dinge erblickt, die wie Tetris-Bausteine ineinander passen: Da, den Schreibtischstuhl könnte ich genau in die Lücke zwischen Bücherregal und Fernseher schieben!

Der Clip beginnt gemächlich: Jemand spielt Tetris, der dies sichtbar sehr gut beherrscht, denn ihn unterfordern Meister-Spielstufen, die Gelegenheitsspieler vor große Probleme stellen würden. Wie bei einem Konzertpianisten, der ohne Noten spielt, fliegen die Hände bei diesem fehlerlosen Vituosenstück über die Tastatur. Es hat ja auch etwas Musikalisches, wie der Joystick gerüttelt und auf die Konsolenknöpfe geklopft wird - so könnten sich die landenden Bausteine anhören.

Doch wer dachte, das alles sei "schnell", wird kurz nach der Hälfte des Clips eines Besseren belehrt, als die Steine unsichtbar herunterhageln und sich erst in den Reihen materialisieren. Jin8 orientiert sich an den Vorschaubildern und meistert auch diesen Spielmodus, weil er bei Fehlern nicht in Panik gerät, sondern kühl seine Strategie anpasst und Unregelmäßigkeiten ausgleicht. Aus dem stampfenden Rhythmus der Handgeräusche wird nun ein atemloses Trommeln wie bei einem 100-Meter-Sprinter.

Jin8s Hand-Auge-Koordination ist von seltener Perfektion - beim Zuschauen allein trübt es einem den Blick: Seine Augen reagieren auf einen Reiz, und die Hände führen die passenden Bewegungen aus. Doch bei diesem Tempo zerfließt die Kausalkette auf dem Split-Screen zu einem nie gesehenen Reiz-Reaktions-Festival. Ja, sie scheint sich sogar umzukehren: Man weiß nicht mehr, ob ein Mensch Tetris-Steine steuert, oder diese nicht vielmehr Impulse auf zwei Androidenhände übertragen: Beide Spektakel auf dem Bildschirm, das reale und das virtuelle, wirken auf den Betrachter ähnlich artistisch: das mechanische Ballett der Finger wie das Durcheinanderstieben der Steine.

Ein Gehirn-Sprengmeister

Mit den Schlusscredits werden die gelandeten Bausteine unsichtbar. Ähnlich wie beim Blindschach muss sich Jin8 die Struktur des Unterbaus aus den von ihm eingefügten Steinen erschließen, die er nur in der Vorschau sah, ohne ihre Position kontrollieren zu können. Diese unfassbar schwierige Variante wurde von den Programmierern wohl als Gag unter den Abspann gelegt, schließlich konnten sie nicht ernsthaft damit rechnen, dass jemand hier weiterspielt. Aber mit Jin8 ist nicht zu spaßen, er besteht auch diese ultimative Prüfung: Die Tetris-Muster haben sich eingeprägt, sein Gehirn ist schneller als seine Augen.

"Und ich dachte, ich wäre gut in Tetris": Solche Kommentare zum Clip "Invisible Tetris" finden sich im Netz zuhauf. Und ein User fragt: "wtf, is this guy even HUMAN?" Schließlich, so ein anderer, erinnern seine Hände an die von E.T.

Spielte man Tetris auf dem Game Boy bis zum Ende durch, startete das Space Shuttle zur Gratulationsmission, im Clip kürt ein Feuerwerk den Tetris-Großmeister. Aber was ist schon ein Feuerwerk, wenn kurz zuvor ein Gehirn-Sprengmeister unsere Maßstäbe von Koordination und Geschicklichkeit in Schutt und Asche gelegt hat?

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