Das Internetvideo der Woche:Gaga hinter Gittern

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Lebenslänglich Musical: Ein Gefängnisbeamter lässt die Häftlinge zu Popsongs tanzen - Massen-Choreographien in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Es ist eine überraschende Nachricht, dass die Band Queen verkappte Marschmusik gemacht haben soll: Eine Truppe orangefarben Uniformierter stampft zu "Radio Gaga" auf der Stelle, und Freddie Mercury besingt die nostalgische Welt des Radios, die im Gegensatz steht zur harten Realität der Tänzer. Sie sind nämlich Häftlinge und hüpfen nicht freiwillig im Hof herum: Massentanz ist Pflichtprogramm in ihrer Anstalt. Der Sicherheitsberater Byron Garcia lässt die Insassen des philippinischen Cebu-Gefängnisses regelmäßig zu choreographischen Exerzitien antreten.

Zunächst erinnern die Szenen an Hollywood-Gefängnis-Sport-Filme (etwa "The Longest Yard" mit Burt Reynolds). Obwohl wir eingesperrt sind, so die Botschaft, tanzen wir uns die geistige Freiheit zurück! Doch in Gefängnisfilmen gibt es immer Momente der Rebellion gegen die Ordnung. Hier aber herrscht eine Homogenität, von der man annehmen muss, dass sie auf einem Zwangssystem beruht. Die Häftlinge mussten sogar zu Pink Floyds "Another Brick in the Wall" tanzen, einem Song, der ein autoritäres Erziehungssystem beklagt.

Im Nonnenkostüm

Ein zu einer Komposition des Libertins Freddie Mercury marschierendes Kollektiv wirkt besonders bizarr: Drill, Disziplin und militärische Ordnung werden von Byron Garcia auf die Popmusik übertragen. Der Pop verliert in seinen Clips das Ekstatische und bleibt folgenlos: Nachher besteht die gleiche Ordnung wie zuvor.

In seine hausgemachte Choreographie hinein hat Byron Garcia Bilder von einem Queen-Konzert montiert, die Szenerie, die als Vorbild für seine Inszenierung dient. Im Gefängnishof werden die Bewegungen des begeisterten Publikums in der strengen Anordnung der Umstehenden stilisiert. Garcia lässt nie alle gleichzeitig tanzen: Rumflippen dürfen nur ein paar Tänzer in der Mitte, der Großteil bildet einen Rahmen monotoner Bewegungen. Die Dialektik von Zügellosigkeit und Überwachung bleibt auch in der "Choreo" gewahrt. Darüber wacht die Kamera, deren erhöhte Perspektive das Kollektiv, nicht den Einzelnen im Blick hat.

Zu Beginn von "I Will Follow Him", einem Song aus dem Film "Sister Act", tanzen Männer einen Pas de deux, und obwohl es sich anscheinend um ein gemischtgeschlechtliches Gefängnis handelt, trägt ein Mann ein Nonnenkostüm: Burleskes Spiel wird also nicht gescheut. "There isn't an ocean too deep /A mountain so high it can keep / Keep me away / Away from his love", heißt es in dem Lied: Das Leben ist auch im Gefängnis nicht zu Ende, so kann man dies positiv deuten. Man kann die Nummer aber auch zynisch finden, weil die Tänzer trotz allen Optimismus eingesperrt bleiben.

Menschliche Marionetten

Und für welches Publikum tanzen sie eigentlich? Am Ende der Clips ist hin und wieder Klatschen zu hören: Sind es die Aufseher, die sich einen Spaß daraus machen? Oder tanzen die Insassen für das Netzpublikum, das dank dieser Clips Einblick in das bisweilen bizarre Treiben hinter Gefängnismauern bekommt?

Der Clip "Algorithm March with Prisoners" entlarvt die Intention: Eine knarzend-maschinelle Lautsprecherstimme verkündet, dass 967 Gefangene für einen Rekordversuch bereitstehen - mehr Menschen seien noch nie zum "Algorithm March" marschiert. Der Tanz erinnert an ein lebendiges Schlachtengemälde: Wie zwei Armeen, die aufeinander losstürmen werden, stellen sich die Häftlinge auf. Dann folgt Diskoquatsch à la "Polonaise Blankenaise" oder "La Bomba": ein Bücken, Hocken, auf die Schultern klopfen - gaga hinter Gittern.

Vielleicht aber ist der westliche Blick überhaupt nicht in der Lage, diese Clips zu verstehen. Vielleicht wird in der philippinischen Kultur die erzwungene Kollektivarbeit und die persönliche Funktion als Baustein im Ornament als Bestätigung des Selbstwerts betrachtet. Siegfried Kracauers negative Einschätzung des "Ornaments der Masse" hätte dann in diesem Fall keine Bedeutung.

Byron Garcias Clips irritieren unsere Individualisierungsvorstellungen, die auch hinter Gefängnismauern gelten. Die tanzenden Häftlinge nehmen den Zwangstanz locker, als sagten sie sich: Wenn wir schon die gleichen Klamotten tragen, können wir auch ruhig die gleichen Bewegungen machen. Angeblich habe sich durch das Tanzen die Disziplin im Gefängnis verbessert, und zwei Häftlinge seien sogar Profitänzer geworden.

Doch trotz aller interkulturellen Einfühlungsversuche wird man den Eindruck nicht los, dass Byron Garcia in seinen Clips mit menschlichen Marionetten spielt und dass hier ein klarer Fall von Pop-Missbrauch vorliegt - ein Vergehen, das mit einer Zwangsteilnahme an der RTL-Show "Let's Dance" geahndet werden sollte.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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