Das Internetvideo der Woche:Ein Maulheld gibt sich die Kugel

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Das traust du dich nicht: ein Kampfjet im Tiefflug, ein vom Mund geschlagener Golfball und das sagenumwobene Russische Roulette.

Christian Kortmann

Langsam schwillt das Rauschen an, rätselhaft und bedrohlich. "I won't flinch", er werde nicht zusammenzucken, behauptet der mutige junge Mann. Doch natürlich wird er den Kopf einziehen ...

Denn wenn der Harrier-Kampfjet nur wenige Meter über ihm vorbeischießt, muss er reagieren, weil es ein Reflex ist. Der Dialog verdeutlicht im Clip "harrier flyover" die Situation: Zwei filmen, einer will etwas beweisen. "Shit, you're gonna be scared!", sagen sie hinter der Kamera, als sie sehen, dass sich der Jet verdammt niedrig nähert. Die Einstellung ist perfekt gewählt, denn zu Beginn ist unklar, wo sich das Geschehen abspielt: am linken Bildrand, wo ein Lkw rangiert, oder rechts, wo sich etwas zu bewegen scheint?

Dann rast das Flugzeug aus der Tiefe des Raums genau in der Mitte des Bildes heran. So unmittelbar, wie es da ist, ist es auch wieder weg: ein Kameraschwenk, dann zischt es in die weite landschaftliche Leere davon, die unter dem Jettempo zum Sandkasten zusammenschrumpft. Die Hochgeschwindigkeitserfahrung hinterlässt eine Staubwolke in der Erinnerung.

Was hat er vor?

Beim Jet-Test hat sich der Mann nicht in Todesgefahr begeben, sondern bewiesen, dass er sich traut, seine Sinne dieser übergroßen, nicht alltäglichen Erfahrung auszusetzen. Eine "Mutprobe" ist in Vladimir Nabokovs gleichnamigem Roman das völlig sinnlose Sterben, mit dem alle Lebenslügen ausgelöscht werden sollen, bitter und existenzialistisch.

Soweit die literarische Überhöhung, doch bei den geläufigen Mutproben besteht der Mut vielmehr in der Ausreizung des körperlichen Alarmsystems, nämlich darin, Dinge zu tun, gegen die man sich sträubt, aber weiß, dass "eigentlich" nichts passieren kann. Leichtsinn ist unbedingt im Spiel (sonst würde man solchen Quatsch nicht machen), und die freudige Hoffnung, nach bestandener Mutprobe um so befreiter den Alltag weiterzuleben: Ich hab's geschafft, was soll mir jetzt noch passieren? Doch auf der anderen Seite dieses ganz schmalen Grats liegt die fürchterliche Selbstauslöschungsschlucht der Dummheit.

Jeder Mutprobe voraus geht eine ausgelassene Stimmung, wie im Clip "Drunk Golfers": Junge Männer in Shorts und Badelatschen, nackte Oberkörper, Handtücher auf den Liegen, irgendwo ein Pool. Der Filmer kommentiert im Sportreporterstil: "Was hat er vor? Er will wirklich mit einem Driver den Golfball aus dem Mund seines Freundes schlagen!"

Direttissima in die Selbstauslöschung

Nicht weit entfernt wird ein nicht mehr randvoll mit Bier gefüllter Kühlschrank stehen: Die Trunkenheit, die die Mutprobe ermöglicht, macht sie zugleich gefährlicher. Vor Lachen kann der Spieler kaum zum Schlag ansetzen, der Ballhalter liegt reglos auf den Planken, gesundheitsgleichgültig oder voller Vertrauen in einen geordneten Lauf der Welt.

Als der Schlag gelingt, bricht hysterisches Lachen aus: Abschläger und Ballhalter liegen sich in den Armen, sie können kaum fassen, was sie tatsächlich getan haben, und sind froh, dass es gutgegangen ist.

Mit einer proportional zum Risiko größeren Erleichterung wird der Sieger beim Russischen Roulette belohnt. Allein im Namen scheinen Geschichten auf: Man sieht das verschneite Sibirien, Uniformen und Pelzmützen, einen Schuldschein, zu viel Wodka; von den sechs Kammern eines Revolvers wird nur eine mit einer Patrone bestückt, die Trommel gedreht, die Waffe an den Kopf geführt - und abgedrückt. Russisches Roulette kommt aus einer anderen Zeit, aber auch aus einer Dimension der Verzweiflung, die man hoffentlich niemals kennenlernt.

Es wirkt selbst dann noch gefährlich, wenn es im Varieté von einem Illusionisten vorgeführt wird: Der wie zufällig aus dem Publikum gefilmte Clip "Russian Roulette Goes Wrong" ist in ein zerstreutes rotes Licht der Gefahr getaucht. Eine Frau nippt am Glas, sie amüsiert sich im Varieté und weiß, dass nichts passieren kann, obwohl auf der Bühne höchst Gefährliches im Gange ist: Der Risiko-Künstler versichert sich bei einer Dame im Publikum, dass sie den Revolver mit einer Patrone geladen hat. Er setzt den Revolver an die Schläfe, seine schwarze Kleidung fokussiert den fahlen Glatzkopf.

Dann drückt er ab. Ein Schuss löst sich, der Zauberer hat genau die falsche Kammer erwischt. Sofort entsteht ein Tohuwabohu im Publikum. Zu schnell schreien sie schockiert durcheinander und entlarven den Clip als Fiktion: Die Schockstarre fehlt, jene Momente, in denen sie sich vergewissern müssten, ob wirklich Schlimmes passiert oder der Tod Teil der Show ist. Plötzlich setzt burleske Drehorgelmusik ein, und der konkurrierende Zauberer Andrew Normansell verkündet freudig, dass er nun "der EINZIGE Russian-Roulette-Künstler in Großbritannien" sei.

Russisches Roulette ist keine Mutprobe. Denn in einem von sechs Fällen lauert der sichere Tod. Es ist die Direttissima in die berüchtigte Selbstauslöschungsschlucht: Völlig zu Recht wurde der Darwin Award, der posthum die schwachsinnigsten Todesarten prämiert, mal drei Kambodschanern verliehen, die betrunken Russisches Roulette mit einer Landmine gespielt hatten, in dem sie abwechselnd darauf herumtrampelten.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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