Das Internetvideo der Woche:Die Ballade vom kühnen Kaninchen

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Es gilt als harmlos und als ein bisschen feige: Doch in "Rabbit VS Snake" beweist ein Kaninchen einer Schlange, dass es keinesfalls unterschätzt werden sollte.

Christian Kortmann

Das gefährlichste Tier vieler Kindheitserinnerungen hat einen Namen: Kaa, die Würgeschlange aus Rudyard Kiplings "Dschungelbuch". Jedes Tier, das in den Bannstrahl ihres hypnotischen Blickes gerät, ist unwiederbringlich verloren. "Sie stiehlt die jungen Affen in der Nacht. Ihr geflüsterter Name jagt ihnen ein Frösteln in die Schwänze", schreibt Kipling. Ein Kaninchen wäre für Kaa wohl nur ein kleiner Snack gewesen, wehrlos, hilflos, doof: easy meat.

Umso mehr erstaunen die Bilder des Internetvideos der Woche: Im Clip "Rabbit VS snake clear version" sehen wir, wie einem Kaninchen das scheinbar Unmögliche gelingt.

Das Kaninchen wird von einer Schlange attackiert, und zunächst befürchtet man, in einen jener unangenehmen Filme geraten zu sein, die gnadenlos brutale Vorfälle im Tierreich dokumentieren. Doch anstatt sprichwörtlich vor der Schlange zu erstarren und sich in sein Schicksal zu fügen, wehrt sich das Kaninchen und schlägt zurück: Es lässt sich nicht einschüchtern, erkennt durch Versuch und Irrtum die Schwachstelle der Schlange an ihrem hinteren Ende und jagt die schließlich Entnervte auf einen Baum.

Anders als im in einer früheren Kolumne behandelten Clip "cat massage", der seinen besonderen Witz erst durch die Tonspur erhält, sollte man bei "Rabbit VS snake" den Ton abschalten. Denn die beiden Männer, die sich über die Szene lustig machen, und das lachende Publikum schwächen die Bilder eher als dass sie sie stärken: Das rein Dokumentarische der Bilder ist hier wirkungsmächtiger als die filmische Bearbeitung.

Neugieriges Gehirntier

Solche rezeptionsästhetischen Volten sind typisch für das Medium Internetvideo, bei dem der User die Lesart selbst bestimmen muss. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan unterschied in Analogie zum Jazz zwischen kalten und heißen Medien:

Heiße Medien zeichnen sich durch Komplexität und Detailreichtum, durch Vollständigkeit und Lückenlosigkeit aus: Der User muss selbst nichts hinzufügen, um die medialen Inhalte zu rezipieren - Beispiele hierfür sind der Kinofilm oder das Buch. So zweifelhaft McLuhans Unterteilung angesichts der niemals passiv, gar einbahnstraßenartig verlaufenden Rezeption ist, so treffend ist seine frühe, Avant-la-lettre-Definition des Netzes als typisch kaltem Medium.

Denn online ist nichts endgültig festgeschrieben, jedes im Netz sich materialisierende Artefakt ist ein work in progress. Der offene Charakter der Internetfilmportale fördert diese Zugangsweise: Der User muss von Film zu Film selbst entscheiden, ob er es mit einem fertigen Produkt zu tun hat oder mit einer Vorstufe, aus der sich erst noch etwas Gelungenes entwickeln könnte.

Zunächst schaltet man also den Ton aus, um "Rabbit VS snake" zu genießen, im nächsten Schritt fällt einem vielleicht ein guter Soundtrack ein, den man unterlegen könnte. Wie wäre es mit "Ballade de Melody Nelson" von Serge Gainsbourg: "Mais ses jours étaient comptés / Quatorze automnes / Et quinze étés / Un petit animal / Que cette Melody Nelson / Une adorable garçonne"

Wenn das möglich ist, was uns das Kaninchen hier zeigt, dann kann jeder gegen zunächst übermächtig erscheinende Gegner bestehen. Dieses Kaninchen heißt von nun an David. Denn sein Kampf gegen die Schlange verkörpert den bekannten Topos von Davids Kampf gegen Goliath. Und solche Geschichten, wie etwa in der "Herr der Ringe"-Saga, interessieren uns brennend.

Auch der Kaninchen-Clip bewegt, weil er mit uns zu tun hat: Der Mensch, das Gehirntier, feiert seine Erfolge nicht durch körperliche Stärke, sondern durch Reflexion und Neugier. Deutlich zeigt "Rabbit VS snake" die Überlegenheit der Säugetierintelligenz gegenüber der reptilischen - das hoppelnde Kaninchen steht deshalb auch für den evolutionären Sprung des Homo sapiens.

Nicht nur die Grundkonstellation, auch die Auflösung des Films erinnert wiederum an ein Motiv aus Kiplings "Dschungelbuch", an die Erzählung von Rikki-Tikki-Tavi, dem mutigen indischen Mungo, der sich mit großen schwarzen Cobras anlegt und dadurch Menschen und anderen Tieren das Leben rettet: "The motto of all the mongoose family is "Run and find out," and Rikki-Tikki was a true mongoose."

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