Das Internetvideo der Woche:Curling auf der Kreuzung

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Endlich Schnee! Aber Vorsicht, schon bei wenigen Zentimetern droht Schneechaos. Oder man lässt es einfach munter krachen wie die Autofahrer im Clip "Portland drivers in the snow".

Christian Kortmann

In meinem Gymnasium gab es einen Lehrer, der Autos nicht besonders mochte. Er trug Bequemschuhe, an den Zehen breiter als an der Ferse, einen Vollbart und fuhr ein Fahrrad mit Anhänger. Er unterrichtete Mathematik und sein Liebstes war es ihm, auf dem Schulparkplatz für Logik und Ordnung zu sorgen.

Dort, wo frisch beführerscheinte Halbstarke in Blechkisten vorfuhren, die von den Klängen der Basslautsprecher erzitterten, betätigte sich der Mathematiklehrer als schulinterne Politesse und nahm sich Falschparker zur Brust, ohne seinen rational begründeten Autohass zu verbergen. Der Clip "Portland drivers in the snow" würde auch ihm gefallen.

Einer seiner interkontinentalen Kollegen drehte diesen Film: der Grundschullehrer Derek Porter aus Portland, Oregon. Am Morgen des 16. Januar 2007 wurde er unsanft von einem krachenden Blechschaden unter seinem Schlafzimmerfenster geweckt. Sofort griff er zur Kamera und hielt das Spektakel fest, das sich da vor seinen Augen in der Gegend SW Salmon und 20. Straße ereignete. Fünf bis zehn Zentimeter Schnee waren gefallen, doch ihre Auswirkung war enorm: Es war der Tag, an dem die Menschen die Kontrolle über ihre Autos verloren.

"Winterreifen? - Ein Mythos!"

Der Film beginnt mit einem Knall. Dann sieht man im bläulich milden Licht der Morgenstunden Autos, die wie von Fäden bewegt über die weiße Straße und den Bürgersteig gleiten, unabwendbar rutschen sie aufeinander und auf parkende Autos zu. Ein Wagen schleift etwas hinter sich her, dann kracht wieder Blech.

Die Autos scheinen spezielle Tricks vorzuführen, wie den, sich im 90-Grad-Winkel in eine Parklücke zu stellen. Toll, dass sich Autos, die ja stets damit beworben werden, wie gut sie die Spur halten, auch in diesem Puppenkisten-Modus bewegen können. Ihnen dabei zuzuschauen hat etwas Meditatives: Wie beim Curling stehen die Menschen um die Stellen herum, an denen zwei Autos kollidieren. Die Autolichter sehen aus wie Markierungen auf Spielsteinen, das Feuerwehrauto ist natürlich der wichtigste, der die meisten Punkte bringt.

Immer neue Autos schlittern heran, die Fahrer werden aus ihrem Schaden nicht klug. Manchmal ist der Mensch eben unfähig, aus den Symptomen die richtige Lösung für sein Problem abzuleiten. "Nicht alle Autofahrer in den USA sind geistig zurückgeblieben", entschuldigt sich ein User bei YouTube. "Snow Tires? I keep hearing those things mentioned, but I think they're just a myth", schreibt ein anderer.

Groß aber doof

Der Clip zeigt bühnenhaft stilisierend, dass beim Autofahren der Verstand gerne mal ausgeschaltet wird. Zum so genannten "Schneechaos" kommt es ja immer dann, wenn Autofahrer trotz widriger Witterung raus auf die Straße drängen. Es ist also vielmehr ein Mangel-an-Logik-Chaos: Stünde ihnen die Rationalität meines ehemaligen Mathematiklehrers zur Verfügung, wären sie schön zu Hause geblieben oder zu Fuß gegangen oder hätten schon längst ein Fahrrad mit Anhänger.

Die Kameraperspektive hat großen Anteil am Gelingen dieses Films: Vielleicht sind die Straßen abschüssig, denn die Autos rutschen über irritierend lange Distanzen. Doch von oben erkennt man das Gefälle nicht. Durch die Vogelperspektive wird der Verfremdungseffekt verstärkt, optisch entsteht ein Ballet Mécanique. Die Tonspur liefert den zum Trompe-l'Œil passenden akustischen Kontrast von lautlosem Gleiten und lautem Zusammenprall.

Derek Porters Filmchen landete zunächst beim Fernsehsender king5.com in Seattle und verbreitete sich dann über YouTube weltweit - ein Internetvideo-typischer heterogener und cross-medialer Verbreitungsweg: Der Inhalt ist an kein Trägermedium gebunden und schlüpft anpassungsfähig durch alle Formate.

Vielleicht wollte der Grundschullehrer den Film ursprünglich nur seinen Schülern zeigen, um zu demonstrieren, dass Erwachsensein kein Synonym für Klugheit ist. Da hätten sie viel zu lachen! Der Clip ist lustig, weil Schaden an wohlbehüteten Statussymbolen entsteht, jedoch in einer Geschwindigkeit, die für keinen Beteiligten gefährlich ist.

Da hilft nur der Logik-Pflug

Vom Image her sind Autos heute für die tollkühnsten Super-Tasks ausgelegt. "Portland drivers in the snow" zeigt aber, dass man Rennfahrer- oder Off-road-Fähigkeiten nicht kaufen kann. Das martialische Design und der 4-Rad-Antrieb der SUVs ersetzen das Können nicht. In ihrer Morgenroutine sind die Autofahrer vom ungewohnten Aggregatzustand des Geläufs überfordert und versagen kollektiv: Insgesamt sollen es 15 Crashs gewesen sein.

Eines der letzten Bilder ist durch Busch und Schneetreiben gefilmt. Dem Schnee ist das alles reichlich egal, er fällt, und wenn er denn fällt, gemahnt er daran, auf welch dünnem Eis unser irrsinniges Alltagstreiben gebaut ist. Der Parkplatz meiner alten Schule wurde heute morgen bestimmt schon mit dem Logik-Pflug geräumt.

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