Das Buch: Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust.:Die German Angst vor Sex

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Die Nazis propagierten freie Liebe - unter ausgesuchten "Volksgenossen". Muffig wurde es in den Fünfzigern. scheinbar entdeckten erst die Achtundsechziger wieder, dass zwischen Mann und Frau mehr geht als die gepflegte Kontroverse über Mao und den Vietkong. Dagmar Herzog hat ein Buch über die Deutschen und ihren Sex geschrieben.

Sven Reichardt

Im Nationalsozialismus wurde, schreibt die in New York lehrende Historikerin Dagmar Herzog, die "Mehrheit der Deutschen angespornt und ermuntert, sexuelles Vergnügen zu suchen und zu erfahren".

Klassiker der freien Lebensform: Rainer Langhans und Uschi Obermeier. Rainer Langhans übrigens, das ist ja nur schwer zu erkennen, ist links im Bild zu sehen. (Foto: N/A)

Die überkommenden Moralvorstellungen taten die Nazis als moralinsaure "pfäffische Heuchelei" ab. Erst mit der wirkmächtigen Geschichtspolitik der 68er-Studentenbewegung seien diese libertären Elemente nationalsozialistischer Sexualpolitik nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Die sexuelle Revolution inszenierte sich in demonstrativer Absetzung vom NS-Regime, welches man als pervertiertes Projekt sexueller Repression imaginierte. Vor allem die spießige, repressive und autoritäre Kleinfamilie galt als psychologische Agentur, die Sadomasochismus und Holocaust erst ermöglicht habe.

Freier Sex in der HJ

Mit diesen Paukenschlägen kündigt sich eine Geschichte deutscher Sexualität und Politik im 20. Jahrhundert an, in deren Zentrum die umgedeutete Erinnerung an die nationalsozialistische Sexualpolitik steht. Bei den Ärzten und Bevölkerungsexperten, in dem Hetzblatt Stürmer oder der SS-Postille Das Schwarze Korps findet die Historikerin keineswegs asexuelle, verklemmte oder prüde Selbstbeschreibungen. Vielmehr seien die Nazis Anhänger freier Liebe unter "Volksgenossen" gewesen, denen an sexuellen Kontakten außerhalb der Ehe und am Körperkult gelegen habe.

Diese Freimütigkeit war es, die den Widerspruch der christlichen Kirchen heraufbeschwor, wobei deren Kritik an der NS-Sexualmoral stärker zu vernehmen war als die gegen den Antisemitismus, der vor allem von der protestantischen Kirche als "Zurückdrängung des jüdischen Einflusses" aus dem öffentlichen Leben" begrüßt wurde.

Zwar sei die NS-Sexualpolitik antisemitisch und rassistisch überformt gewesen, aber innerhalb der Grenzen einer so definierten "Volksgemeinschaft" sei sie, betont die Autorin immer wieder, libertär gewesen. Das Regime thematisierte Sex öffentlich als etwas Natürliches und Reines und förderte den außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr - etwa in BDM, HJ oder Reichsarbeitsdienst. Diese Freizügigkeit erkläre auch die Bindung der Jugendlichen an das Regime.

Zur Untreue ermutigt

Dass die Nationalsozialisten im Jahr 1938 selbst die Scheidungsgesetzgebung lockerten, geschah allerdings vor allem dann, wenn die "ehelichen Pflichten" aus ihrer Sicht mangelhaft erfüllt, Verhütungsmittel eingesetzt oder Unfruchtbarkeit festgestellt worden war. Fortpflanzung in oder außerhalb der Ehe war es also, die sich die Nazis angesichts sinkender Geburtenraten seit Beginn des 20. Jahrhunderts wünschten. Vor allem die Männer - zumal in den Kriegsjahren von 1942 an - wurden zur Untreue ermutigt.

Die nationalsozialistische Nacktkultur wirkte im Vergleich zur abgelehnten Laszivität und Lüsternheit, die man der Weimarer Vergnügungsindustrie und den Juden zuschrieb, starr und steril. Zudem waren die Sterilisation "Erbkranker", die Kriminalisierung der Abtreibung und homosexueller Akte, das Verbot sexueller Kontakte zu Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen die Kehrseiten einer keineswegs frei wählbaren Libertinage. Diese Ambivalenz kommt, wie auch die keineswegs so liberale Praxis im Sexualverhalten der "Volksdeutschen", in der auf eine These zugespitzten Darstellung Herzogs jedoch zu kurz.

Herzog repliziert somit einen Blick auf die Sexualpolitik der Nazis, der, wie sie selbst ausführlich zeigt, für die fünfziger Jahre typisch war. Nachdem in den Wirren der Nachkriegsjahre viele Ehen auseinander gebrochen waren und sich der vor- und außereheliche Geschlechtsverkehr Ende der vierziger Jahre erstaunlich hoher Zustimmung erfreute, setzte sich spätestens Mitte der Fünfziger die Auffassung durch, gegen die nationalsozialistische Liberalisierung und die Verwirrung der Nachkriegsjahre der Freimütigkeit durch die Propagierung anständiger Manieren Einhalt bieten zu müssen. Man sprach sich für die Beschränkung der Sexualität auf die Ehe aus, und sollte über den sündigen Sex, der insbesondere für Frauen ungehörig sei, möglichst nicht öffentlich sprechen.

Die klassischen Vorstellungen vom züchtig ehelichen Sex, von Häuslichkeit und weiblicher Anpassung an den Mann als Familienoberhaupt galten insofern als Heilmittel gegen die antibourgeoise Lasterhaftigkeit der Nazis. Dass Begehren und Triebe irgendwie schmutzig seien und einzudämmen waren - darin zeigten sich der CDU-Familienminister Franz-Josef Wuermeling und konservative Sexualpädagogen wie Heinrich von Gagern einig. Gleich 1952 beschloss der Bundestag, gegen "Schund und Schmutz" einzuschreiten. Der Heimlichtuerei und der Scham standen indes hohe Abtreibungsraten von jährlich bis zu einer Million gegenüber; die Sexualpraxis der Deutschen folgte also keineswegs ungebrochen diesem Diskurs.

Zehnmal mehr gebumst

Zudem lässt sich die Muffigkeit der fünfziger Jahre nicht gänzlich als Versuch deuten, mit der NS-Vergangenheit fertig zu werden. Denn zweifellos wurden zu dieser Zeit auch Teile des Frauenbildes, der Homophobie und christliche Überzeugungen aus der NS-Zeit fortgeschrieben. Der bedeutende Kuppeleiparagraf etwa, der Vermietern und Eltern mit Strafen drohte, wenn sie duldeten, dass unverheiratete mündige Paare zusammenfanden, war ja keine Erfindung der fünfziger Jahre, sondern stammte aus der NS-Zeit.

Die "erstickende Verklemmtheit" und der moralische Konformismus der fünfziger Jahre waren es letztlich, so die Autorin, welche die Forderungen nach einer "sexuellen Revolution" durch die Achtundsechziger mit besonderer Vehemenz ausgestattet hatten. Gleichzeitig hatte die "Sexwelle" der sechziger Jahre zur Vermarktung pornografischer Bilder und Texte geführt. Nacktheit und außerehelicher Sex wurden nicht nur zu Konsumgütern, sondern auch zu öffentlich verhandelten Themen in Presse und Werbung. "Sex sells" hieß es von Oswald Kolles Aufklärungsfilmen bis zu Beate Uhse, die ihren ersten größeren Laden 1965 in Hamburg eröffnete.

Die Studentenbewegung betrachtete dies mit gemischten Gefühlen - denn so sehr sie der Konsumkapitalismus störte, so sehr begrüßte sie doch den Abschied von der Verklemmtheit. Aber auch wenn "zehnmal mehr gebumst würde als früher" (Publikation der Berliner Kinderläden), ging es den Rebellierenden doch um etwas anderes: die Revolutionierung der Gesellschaft, die Überwindung "autoritärer Charakterstrukturen" und der angeblich repressiven Verhältnisse kleinbürgerlicher Familien.

Den Holocaust in den Bereich der Sexualität verschoben

Befreite Sexualität und progressive Politik hingen unmittelbar zusammen, denn erst die "autoritär-masochistische" bürgerliche Kleinfamilie mit ihrer strikten Sauberkeitserziehung und Unterdrückung kindlicher Sexualität habe Hitler möglich gemacht. Dagegen nun setzte man neue Formen der antiautoritären Erziehung und des Zusammenlebens, die die psychologische Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft schaffen sollten.

Dagmar Herzogs spöttelnde Charakterisierung der Kinderladenbewegung mit ihrer Fixierung auf ein Abziehbild vom verklemmten Nazischläger zeigt, wie verunsichert die Achtundsechziger waren. Ihre Kapitulation vor kindlicher Sexualität, ihr Erstarren, wenn die Kinder Interesse an den Genitalien der Erwachsenen zeigten, offenbart, wie schwer der souveräne Umgang mit den verherrlichten Kinderladenkindern fiel, wie gewunden man Respekt und Grenzziehungen artikulierte. Konfliktlösungen waren hier, wenn man sie nicht mit Ideologieverdacht oder Dogmatismusvorwurf sanktionieren konnte, ungewohnt und ungelernt.

Den Autoritarismus und Konservatismus, unter dem sie in den fünfziger Jahren erzogen worden waren, (miss-)verstanden viele als bloße Kontinuität des Nationalsozialismus. Herzog folgt hier der Interpretation Reimut Reiches, der das Trauma der Studentenbewegung darin erkannte, dass sie Schuld und Trauer nach dem von der Elterngeneration organisierten Holocaust durch politischen Aktivismus und Verschiebungen in den Bereich der Sexualität zu bewältigen suchte.

Nach einem Überblickskapitel über die Verhältnisse in der DDR endet das Buch mit einem Kapitel über die siebziger Jahre - über die Lockerung des Sexualstrafrechts, die Schwulenbewegung, den Kampf gegen den Paragrafen 218 und die zunehmende Sensibilisierung für männliche Militanz und "Mackertum" in der linken Alternativbewegung.

Sexologen und Zeitzeugen

Herzogs Buch handelt also von den ideologischen Auseinandersetzungen um die deutsche Sexualität von 1933 bis in die späten 1970er Jahre - mit einem kurzen Ausblick auf die Jahre nach 1989. Die politischen Vorschriften, Moralkodizes und Meinungen von Ideologen, Regierungsvertretern, professionellen Deutern und Sexologen, von Journalisten, Kirchenvertretern und zuweilen auch von interviewten Zeitzeugen werden ineinander verschachtelt und zu einer lesenswerten Diskursgeschichte verwoben.

Welchem theoretischen Prinzip sich diese Collagetechnik jedoch verpflichtet weiß und welche Argumentationslinie die Autorin verfolgt, bleibt unklar. Vorschriften und praktisches Verhalten werden leider nicht immer sauber voneinander getrennt. Inwieweit und warum das Sexualverhalten der Deutschen den unterschiedlichen Diskursen der Experten, Regierungsvertreter oder Kirchen folgte, wird nur selten beantwortet.

Dass allein das Erbe des und die Erinnerung an den Nationalsozialismus den wechselhaften Verlauf der deutschen Sexualpolitik bestimmte, mag man aufgrund ähnlicher Entwicklungen in anderen westeuropäischen Gesellschaften letztlich bezweifeln. Kurzum: Auch in dieser interessanten Untersuchung erfährt man nicht alles, was man schon immer über Sex wissen wollte.

DAGMAR HERZOG: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Siedler Verlag, München 2005. 431 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 7.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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