Choreographie des nackten Körpers:Elektrische Kriechströme, die auf der Haut tanzen

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Aus den Fugen geratene Körper, eingefangen wie bei einem Fotoshooting: Das zeichnerische Werk Egon Schieles in der Wiener Albertina.

Christopher Schmidt

Die entscheidende Frage beim Schreiben lautet: Wo soll ich anfangen? Die entscheidende Frage beim Zeichnen lautet: Wo soll ich aufhören? Gemeinsam ist beidem die Frage, wie man mit minimalem Aufwand maximale Wirkung erreicht. Exemplarisch ist das nun in Wien zu erleben. Die Albertina hat 130 Arbeiten Egon Schieles aus eigenen Beständen - Zeichnungen, Aquarelle und Gouachen - um neunzig Leihgaben ergänzt. Erstmals vermittelt die Ausstellung eine Vorstellung von Schieles kontinuierlicher stilistischer Entwicklung und verdeutlicht seine Arbeitsweise, indem sie für einige Werkgruppen jene in alle vier Winde zerstreuten Blätter wieder zusammenführte, die während einer einzigen Modell-Sitzung entstanden sind.

Schieles Werk kreist wie wenig andere um den point of no return der bildnerischen Vollendung. Auf Max Liebermanns Diktum, Zeichnen sei Weglassen, hat Alfred Kerr einmal geantwortet: "Ja, aber Weglassen ist noch nicht Zeichnen". Mit zwanzig verfügt Schiele bereits über eine Meisterschaft als Zeichner, die er als Maler nie erreichen sollte, und ist seinen Vorbildern entwachsen. Er ist nun offen, die Fragen selbst zu formulieren, auf die er Antworten sucht.

Das Jahr 1910 markiert so etwas wie sein spirituelles Geburtsdatum: Von jetzt an bis zu seinem frühen Tod 1918 thematisiert Schiele das Verhältnis von Linie und Fläche, Koloristik und Komposition. Und gerät dabei in ein Virtuosen-Dilemma. Seine überwältigenden Stärken als Zeichner bezeichnen genau seine Schwächen als Maler.

In der schnell entstandenen Skizze sucht er Lösungsansätze für seine Malerei und lässt sich doch immer wieder von der Eigengesetzlichkeit des Grafischen betören. Indem er von Anfang an kein neutrales weißes, sondern ein gelblich getöntes Zeichenpapier verwendet, ist die ausgesparte Fläche von vornherein als Farbraum und damit als Bildelement definiert. Und er wählt ein Papier, das stark geleimt, also nicht übermäßig saugfähig ist, damit die Pinselstruktur und die Gestik des Farbauftrags erhalten bleiben. So will er nicht die Materialität des Signifikanten hervorheben, sondern eine vereinheitlichende Allover-Textur erzeugen: Der Pinselstrich ist Teil der Zeichnung, nicht ihr Gegenteil, und das Amorphe der Wasserfarben bleibt immer gebändigt und begrenzt von der sie wie ein Lasso einfangenden Bleistiftkontur.

Bizarre, künstliche Arabesken

Mal zieht die Farbe die dargestellte Figur zusammen und isoliert sie vom Hintergrund wie vom situativen Kontext, indem etwa einem Musiker sein Instrument aus den Händen genommen wird, als spiele er auf einem Cello aus Luft. Die Körperhaltung verliert ihre Kausalität und wird, wie so oft bei Schiele, zu einer bizarren, künstlichen Arabeske. Zumal den Händen raubt er ihre Funktionalität als Greifwerkzeuge, macht sie zu fliegenden Vektoren einer dynamisierten und aus den Fugen geratenen Körpergeometrie. Und zu kompositorischen Platzhaltern subtiler Binnenkorrespondenzen.

So beschränkt sich die Farbigkeit häufig auf Gesicht und Hände oder lenkt den Blick etwa auf den Bauch einer Schwangeren. Flammendes Orange und kaltes Grün dominieren als naturfern-morbides Inkarnat die Palette des Aktzeichners und Porträtisten. Die Schwefeltöne fließen ab aus den entfärbten Körpern und sammeln sich als gesättigte Flächen in Kleidungsstücken, Decken und Kissen, die nun im Negativverfahren die Silhouetten nackter Frauen, Männer und Kinder nicht nur aus-, sondern auch beschneiden.

Von Schieles bahnbrechender Meisterschaft in der Wahl des Bildausschnitts ist noch die Cover-Ästhetik unserer Tage geprägt. Er trennt den menschlichen Körper wie einen fotographischen Freisteller aus seiner Umgebung heraus und kupiert dem sich als fragmentarisch erlebenden Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts mitleidslos-mitleidend Kopf und Füße, lässt ihn den Rahmen sprengen und über den Bildraum hinauswachsen. Seine Aktbilder sind Dramen eines Ausbruchs aus dem Museum - als wären die antiken Statuen von ihren Sockeln herabgestiegen und hätten sich im Gedränge der Großstadt verloren.

Manche Aktstudien erinnern an Filmstills, an eingefrorene Bewegungsabläufe und wirken wie Polaroids. Jenseits des eingeschränkten Repertoires klassischer Posituren choreographiert Schiele den nackten Körper in all seinen schmerzhaften und aufreizenden Verdrehungen und Verbiegungen und lässt sich dabei von den gleichermaßen tabuisierten Formatierungen aus Pathologie und Pornografie inspirieren. Der Körper wird hier nicht mehr still kontempliert, sondern laut animiert, und die Modelle inszenieren sich vor dem Betrachter.

Im Wissen, dass sie beobachtet werden, spielen sie mit seinen Phantasien. Der Künstler scheint sie anzufeuern und zu noch gewagteren Posen zu reizen wie bei einem Fotoshooting, während er das Modell umkreist. Er arbeitet mit Schuss und Gegenschuss, Schwenks, Untersichten und extremen Sturzperspektiven, dreht Liegende in die Vertikale, so dass sie zu schweben scheinen. Kleidungsstücke und Draperien werden zu Requisiten im erotisierenden Spiel mit dem doppelten Reiz von Enthüllung und Verbergen, dem doch immer ein Moment von Gewaltsamkeit eignet, da es den Menschen als im höchsten Maße antastbar zeigt.

Mal Mönch, mal Monster

Genauso hat Schiele sich in zahllosen Selbstbildnissen - mal Mönch, mal Monster - in Szene gesetzt. Schiele war ein leidenschaftlicher Sammler geringwertiger Gebrauchskunst. Als Künstler hat er ein Bild von sich zusammengesetzt aus tausend gesammelten Ausdrucksgebärden. Der Mensch ist die Krone seiner ikonografischen Ausschöpfung.

Bis 1913 hat Schieles Zeichenstift das Papier so oft virtuell und virtuos zerteilt, dass er wohl genug hatte vom Tangram-Puzzle des perfekten Gleichgewichts. Er legt nun Wert darauf, die Plastizität des Körpers herauszustellen. Wie elektrische Kriechströme tanzen rote und grüne Hahnentrittmuster auf der Haut seiner Figuren, welche die zarten Girlanden der durchscheinenden Adern und Gefäße andeuten. In der Zeichnung sind sie ersetzt durch spiralförmige und gestrichelte Linien, die an die Moniereisen im Betonbau erinnern. Aber für seine Malerei kann Schiele die neue Manier nicht fruchtbar machen. Schiele beugt sich hier dem maltechnischen Zwang, die gesamte Leinwand mit Farbe zu bedecken, so dass er sich dem Formelhaften, ja der ornamentalen Überdetermination nicht gleichermaßen entwinden kann.

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges findet Schiele zu einer geläuterten Naturalistik, die eindrücklich zeigt, dass es ihm letztlich nie um die Selbstbefreiung der malerischen Mittel ging, nicht um Syntax, sondern um Semantik. So ist bei ihm auch der stärkste Vorstoß in die Abstraktion immer literarisch motiviert. In mehreren Doppelakten eines weiblichen Liebespaares umklammert die nackte Frau ihre willenlose Gespielin. Während die eine naturalistisch dargestellt ist, bleibt die andere eine Puppe - die Formalisierung ist Teil des Sujets, kein Selbstzweck. Der Zeichenstift war für Schiele ein Instrument der Beschreibung, kein Zauberstab der Artistik.

Henri Matisse, ein anderer großer Zeichner, verglich die Kunst einmal mit einem Lehnstuhl, sie solle der Erholung dienen. Bei Schiele ist die Kunst der Schleudersitzeiner explodierenden Ordnung.

Egon Schiele, bis 19. März in der Albertina Wien. Info: Tel. 0043/ 1534830. Katalog 29 Euro.

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