Charles Darwin "Die Fahrt der Beagle":Viel schöner scheint es, wenn man alles untersucht

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Der Sammler unterwegs: Charles Darwins Reisetagebuch von der ,,Beagle''

Nico Bleutge

Der erste Blick gilt den Bäumen. Auf der Reise nach Rio de Janeiro verbringt der junge Charles Darwin einige Tage in dem kleinen Tropenort Socego. Die willkommene Rast nutzt er, um die Szenerie zu beschreiben: die hoch aufragenden Äste, den Wall der Palmen, die holzigen Kriechpflanzen, die sich um die Stämme gelegt haben.

Charles Darwin, Die Fahrt der Beagle, Tagebuch mit Erforschungen der Naturgeschichte und Geologie der Länder, die auf der Fahrt von HMS Beagle unter dem Kommando von Kapitän Fitz Roy, besucht wurden. Mit einer Einleitung von Daniel Kehlmann. Deutsch von Eike Schönfeld. Marebuch Verlag, Hamburg 2006. 688 Seiten, 39,90 Euro. (Foto: Foto: Marebuch Verlag)

Dann jedoch ändert sich der Tonfall: ,,Es fällt leicht, die einzelnen Gegenstände der Bewunderung in diesen großartigen Szenen zu bestimmen, dagegen ist es unmöglich, eine angemessene Vorstellung von den höheren Empfindungen der Verwunderung, des Staunens und der Andacht mitzuteilen, die den Geist erfüllen und erheben.''

Zwanzig Jahre lang nach der Reise entwickelt Darwin seine Thesen

Was zunächst wie ein harmloser Sichtwechsel anmutet, ist in Wahrheit eine Umstülpung der gesamten Denkweise. Der Blick des Forschungsreisenden schlägt um in die Betrachtung der Landschaft. Nicht mehr die kühle Beschreibung steht im Vordergrund, sondern allein der ästhetische Genuss.

Charles Darwin war noch kein halbes Jahr unterwegs, als er 1832 den brasilianischen Regenwald erreichte. Ein zweiundzwanzigjähriger Naturforscher, der sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt hatte: ,,den großen Plan zu enthüllen, den Gegenwart und alle vergangenen Zeiten gemein haben und nach dem organisierte Lebewesen erschaffen worden sind''.

In Kapitän Robert Fitz Roy fand er einen verlässlichen Partner, der für seine Vermessungsreise Richtung Pazifik einen ,,Mann der Wissenschaft'' suchte. Die Fahrt begann im Dezember 1831, gut fünf Jahre Expedition lagen vor ihnen. Darwin fuhr quer über die Weltmeere, von England nach Brasilien, von Peru nach Tahiti, von Neuseeland und Australien bis ans Kap der Guten Hoffnung. Mitten hinein in diese Tour de Force fallen die Erkundungen auf dem Galapagos-Archipel, die Notizen zu Finken und Schildkröten, die seine bisherigen Ansichten aus den Angeln hoben.

Es sollte noch einmal gut zwanzig Jahre dauern, bis Darwin die Thesen zu den Skizzen und Funden seiner Beobachtungsreise entwickeln konnte. 1859 veröffentlichte er sein Hauptwerk ,,Die Entstehung der Arten'', in dem er die Theorie der Evolution ausbreitete. Bis dahin hatte sich die Überzeugung von einer harmonischen Schöpfung der Welt gehalten.

Die verschiedenen Arten, so die überkommene Ansicht, habe es schon immer gegeben und ihre Merkmale seien unveränderlich. Mit Darwin lässt sich auch die Entstehung der Lebewesen als historischer Prozess verstehen. Die Individuen einer Art sind ihm Mutationen und natürlicher Auslese unterworfen. Nur wer seiner Umwelt optimal angepasst ist - ein Werk reinen Zufalls -, hat eine Chance zu überleben.

Darwins Schrift kam einer Revolution gleich. Doch sie wäre nicht denkbar ohne das Tagebuch seiner Reise auf der ,,Beagle''. Hier erprobt er die Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Wahrnehmung, hier findet er das Material für seine Ideen und übt sich in der Kunst des Vergleichens.

Ein sanftes, zwitscherndes Geräusch

,,Die Sammelleidenschaft'', schreibt Darwin einmal in seiner Autobiographie, ,,war bei mir stark ausgeprägt und offenbar angeboren, denn weder meine Schwestern noch mein Bruder hatten je einen Hang dazu''. Die Namen von Pflanzen hatten es dem Jungen besonders angetan. Dazu sammelte er allerlei kleine Dinge: Muscheln, Siegel, Briefumschläge (,,mit Frankaturstempeln''), Münzen und Mineralien.

In seiner späteren Zeit litt Darwin an Übelkeit und Schlaflosigkeit. Ein Schwächeanfall folgte dem nächsten. Auch wenn er auf der Fahrt der ,,Beagle'' vor allem durch Kraft und Ausdauer auffiel, bestimmte ihn die Angst um seine Gesundheit schon in jungen Jahren. Umso überraschender ist es, in den Aufzeichnungen keinerlei Notizen zur eigenen Person zu finden, nicht einmal sein Hang zur Seekrankheit wird erwähnt. Der Körper und seine Bedürfnisse bleiben ausgeklammert.

Die Wahrnehmung des Reisenden konzentriert sich ganz auf die Umgebung. Meist ist es eine Beschreibung der Landschaftsschichten, mit der Darwin seine Kapitel eröffnet. Dazu gibt es genaue Skizzen der vorhandenen Tierarten, bisweilen Einschübe über Kultur und Landeskunde. Der Naturforscher zeigt immer wieder seine Fähigkeiten: Wie er hinsieht, sammelt, vergleicht, aber noch keine Erklärung für die Ähnlichkeiten und kleinen Unterschiede zwischen den Lebewesen hat. Wie er abwägt und vorsichtig Regeln gewinnt. Das alles in steter Tuchfühlung mit vorhandenen Theorien, die er kritisch sichtet. Hier kann man beobachten, wie empirische Forschung im Idealfall läuft.

Stets aber äußert er Respekt vor der Perspektive des anderen

Doch der Reisende hat noch eine zweite Leidenschaft. Zwischen den Zeilen wird nicht selten eine Lust spürbar, die dem Blick des Wissenschaftlers in die Quere kommt. Es ist der Hang zum schönen Bild und zur Poesie einer Geschichte. Kunstvoll spinnt Darwin seine Betrachtungen immer wieder zu Anekdoten aus, durchzieht sie mit Kleinigkeiten, die den Leser ganz nah heran holen.

Selbst eine unscheinbare Wahrnehmung kann so unversehens zum literarischen Splitter werden: ,,Mir fiel auf, dass jedes Mal, wenn das Pferd den Fuß auf den kieselhaltigen Sand setzte, ein sanftes zwitscherndes Geräusch entstand.'' Hier ist ein großartiger Stilist am Werk, der den Zwiespalt zwischen Natur und Geist bis in seine Sätze hinein austrägt.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Aufspaltung des Denkens in zwei gegensätzliche Stränge schon in vollem Gange. Darwin wusste um diese Spannung - und er versuchte sie zu nutzen. Im Verlauf seiner Reise entwickelte er eine Kunst des Wahrnehmens, die über die ,,bloße Bewunderung der Schönheit'' hinausgeht: ,,Ich neige stark zu der Ansicht, dass so wie in der Musik derjenige, der, wenn er über den gebührenden Geschmack verfügt und jede Note versteht, das Ganze desto voller genießen kann, auch derjenige, der jeden Aspekt einer schönen Ansicht untersucht, die volle und vereinte Wirkung gründlich zu verstehen vermag.'' In einer höchst eigenwilligen Liaison kommen wissenschaftliche und ästhetische Betrachtung noch einmal für Momente zusammen.

Diese Fähigkeit zur Vermittlung bestimmt das Tagebuch auch an anderen Stellen. Charles Darwin zeigt sich in jungen Jahren als Denker, der sein Jahrhundert nicht verleugnen kann, sich aber dennoch immer wieder über die Ideen der Zeitgenossen erhebt. Das Selbstvertrauen des englischen Kolonisten ist ihm ebenso wenig fremd wie ein deutliches Urteil.

Stets aber äußert er Respekt vor der Perspektive des anderen. Mehr noch: Er reflektiert über das Wesen der Vorurteile und über den mühsamen Vorgang, sich eine angemessene Meinung zu bilden. Als Verfechter der Republik und erklärter Gegner der Sklaverei spricht er sich gegen menschliche Grausamkeiten aus. ,,Wo sich der Europäer auch hinwendet'', heißt es auf den letzten Seiten, ,,scheint der Tod die Eingeborenen zu verfolgen''. Es ist diese Weite des Blicks, die seine ,,Fahrt der Beagle'' zu einem großen Buch macht.

© SZ-Beilage vom 04.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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