CD-Tipp:Bach zwischen Techno und Gospel

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Uri Caines grandiose Goldberg-Variationen

STEPHAN REINHARDT

Selbstverständlich gehören die Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs, interpretiert von Glenn Gould, in jeden besseren Plattenschrank. Wer die legendäre Aufnahme aus den Mittfünfzigern besitzt, darf noch etwas stolzer sein, denn sie eröffnete seinerzeit einen völlig neuen Zugang zur Musik des vermeintlich gestrengen Bach.

(Foto: N/A)

Uri Caine war 14 Jahre alt, als er diese Einspielung hörte. Sie hat ihn inspiriert und ihm den Weg gewiesen, wie man mit musealen Klassikern umgehen kann. Heute und in Zukunft dürften seine in diesem Jahr erschienenen "Goldberg Variations" (bei Winter & Winter 910054-2), die er mit einem Ensemble aus erstklassigen Musikern aus aller Welt und allen Sparten aufgenommen hat, ihren festen Platz direkt neben den Einspielungen Goulds finden. Selbst Rapper und Techno-Fans, Samba- und Salsa-Tänzer werden ihren Gefallen an Bach/Caine finden.

Was die Variationen im Innersten zusammenhält

Bachs Goldberg-Variationen basieren nicht auf der Melodie der Aria, sondern auf dem gesamten Klaviersatz, ausgehend von einem 32-taktigen Bassgang, dessen harmonische Struktur durch alle Variationen erhalten bleibt. Hier hat Bach ganz verschiedene Musikstile seiner Zeit in den Variationen über ein Thema vereinheitlicht. Nichts anderes macht Uri Caine. Und an Kühnheit steht er dem heute vor einem Vierteljahrtausend verstorbenen Bach in nichts nach.

Zwar bleibt in manchen Sätzen Bachs Notentext unangetastet oder wird lediglich für alte Instrumente neu gesetzt. Dann aber gibt es auch verfremdende Variationen, in denen mal der Vokalartist David Moss, mal Caine selbst über das vom Kettwiger Kammerchor oder dem Barock-Ensemble gesungene oder gespielte Thema improvisiert. Im Techno-Gewand kommen weitere Variationen daher, von DJ Olive akustisch und im Tempo stark verzerrt. Und wo der Leipziger Thomas-Kantor eine Gigue schrieb, da lässt der amerikanische Jazz-Pianist und Komponist einen Mambo, Tango oder Walzer tanzen. Aus dem streng berechneten Kontrapunkt wird ein Tribut an afro-kubanische Salsa-Musik. Dazu gibt es musikalische Überlegungen, wie sich ein Rachmaninow, Vivaldi, Verdi oder Mozart den Variationen angenommen hätten. Aus dem Bereich des Jazz kommen Ragtime, Blues, Swing, und Bebop, dazu gibt es noch besten Klezmer, Funk und Gospel (Barbara Walker), ein barockes Gamben-Quartett, Elektronik-Equipment, etc. Insgesamt: Ein Kaleidoskop der Stile und Klänge.

Ein wahlloses Tohowabou? Mitnichten. Ein sinnlicher Exkurs über die abstrakte Idee 'Thema und Variationen'.

Hier kann der Komponist "auch in gedrängter Form die Vielfalt seiner Fähigkeiten unter Beweis stellen", sagt Caine. Die Vielfalt ist beabsichtigt, eine moderne Annäherung an Bach, der in seinen Goldberg-Variationen verschiedene Nationalstile, unterschiedliche Tanzformen, neun Kanons auf immer größeren Intervallen, hochvirtuose Kompositionen für das Harpischord und eine humoristische Kombination zweier Volkslieder in der letzten Variation vereinte.

Wenn es die meisten Zuhörer auch nicht hören werden, aber das Variationskonzept Caines folgt der Struktur der Bachschen Vorlage. "Es hat eine Ordnung", sagt Caine: "Der Bezug ist mal mehr oder weniger ersichtlich, mal mehr, mal weniger abstrakt. Aber auch das ist Teil des Variationskonzepts." Es ist die Variationsbreite, die für ihn bei Bach im Vordergrund steht.

Zwei CDs mit jeweils mehr als 70 Minuten Spieldauer reichten Uri Caine und seinem Ensemble nicht einmal aus, um tatsächlich über alle 30 Variationen, die sich um die berühmte Aria und ihre Reprise ranken, zu improvisieren. Dennoch kamen deren 70, zum Teil sehr freie Miniaturen zustande.

Caines Ensemble sorgt dabei für ein musikalisches Feuerwerk der Sonderklasse: Ralph Alessi, Don Byron, Vittorio Ghielmi, Drew Gress, DJ Olive, Ralph Peterson, Annegret Siedel, Barbara Walker und David Moss sowie das Kettwiger Bach-Ensemble: hier wird präzise und mitunter hochvirtuos musiziert.

Selbst nach dem 30. Hören wird diese CD nicht langweilig. Alle Variationen brennen sich ins Hirn oder ins Herz oder in das Tanzbein. Und wer nach Ausgiebigem Hören der Caine-Variationen zurück zu den Gould-Interpretationen kehrt, der wird über dessen Spiel im Geiste oder im Gesang die eigenen Improvisationen legen. Denn Caines Umgang mit Bach hat zweifellos auch unsere Phantasie beflügelt und uns geholfen, Bach nicht nur als strengen Kirchenmusiker zu sehen, sondern als durchaus sinnenfrohen Barockmenschen.

Bach, würde er heute leben, könnte durchaus ein Rapper sein. Wer das nicht glaubt, sollte mal reinhören in eine der wichtigsten CDs der gesamten Bach-Diskographie. Für uns ist sie jedenfalls schon jetzt das Highlight des Jahres, ja mehr: eine Scheibe, die wir mit auf die Insel nehmen würden. Für Bachfreunde hat es seit Gould wohl kaum etwas Bahnbrechenderes gegeben.

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