Bundespolitik verweht:Das deutsche Herz schlägt links...

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... aber die SPD hat nichts begriffen und träumt die schönen Träume der Gefühlslinken.

Heinz Bude

In einem Punkt hat Gregor Gysi Recht: Es gibt nach dieser Bundestagswahl eine Mehrheit links von der Mitte.

Kanzler Schröder in dunkler Nacht (Foto: Foto: Reuters)

Wenn der Führer der Linkspartei, die aus dem Stand die Grünen überholt hat, das so ausspricht, erhebt er natürlich einen Anspruch auf Deutungshoheit: Das Gefühl, links zu sein, ist der Anlass, sich eine Volksfront vorzustellen und sich in diese schon einmal einzureihen.

Hier liegt die eigentliche Herausforderung für die Sozialdemokraten, ganz unabhängig davon, in welcher machtpolitischen Konstellation sie in die nächste Legislaturperiode gehen. Was sich da nämlich unter dem Appellwort der Linken zusammenbraut, ist eine geistige Front der Ablehnung all dessen, wofür Gerhard Schröder das Vertrauen des Wahlvolks einholen wollte.

Linkssein bedeutet, wie Oskar Lafontaine in diesen Tagen nicht müde wird zu betonen, gegen Hartz IV, gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr und gegen all das zu sein, was bürgerliche Eigenverantwortung heißen soll und worin sich die Reduktion der staatlichen Verantwortung gegenüber dem einzelnen verbirgt. Aber genau unter diesen Stichworten ist Schröder und mit ihm die SPD angetreten. Dies werden auch die Kapitelüberschriften in den Geschichtsbüchern über sieben Jahre Rot-Grün sein.

Was sich jetzt in Deutschland links fühlt, ist geneigt, diese Periode als passive Angleichung an einen hegemonialen Mainstream abzubuchen, dem nun endlich mit den Mitteln eines nationalen Sozialismus Widerstand entgegengebracht werden kann. Man ist schon dabei, Gerhard Schröder als den Schuldigen dieser Verirrung des linken Denkens aufzubauen, um dadurch Oskar Lafontaine einen Weg zurück in eine kritisch geläuterte Sozialdemokratie zu ebnen.

Kein neues geistiges Gesicht

Hier rächt sich, dass sich die SPD kein neues geistiges Gesicht gegeben hat. Es konnte in der Tat der Eindruck entstehen, als habe man nur nachvollzogen, was die Peitsche der Globalisierung gebietet. Dass dahinter ein Wille und eine Idee stand, hat sich jedenfalls nicht vermittelt. Das vom kurzzeitigen Kanzleramtschef Bodo Hombach initiierte Schröder/Blair-Papier verschwand, um den Frieden in der Partei zu retten, wieder in der Schublade.

Der dann präsentierte Begriff der Zivilgesellschaft blieb ein Plastikwort ohne Erfahrungsgehalt, und die intellektuelle hoch gehandelten Konzepte des "guten Regierens" gehörten zur globalen Konferenzprosa ohne Nachhall in der deutschen Öffentlichkeit.

Es fehlt heute eine sozialdemokratische Erzählung, die das letzte Kapitel in der langen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als eines der Beteiligung an dem neuen sozialdemokratischen Zeitalter unter Bill Clinton, Tony Blair, Lionell Jospin und schließlich unter Gerhard Schröder verständlich machen würde. Da ist etwas passiert, das Maßstäbe für die Zukunft setzt. Was war das?

Wolfahrt? Nicht nur ein Segen, sondern auch eine Last

Die erste Einsicht der internationalen sozialdemokratischen Parteienfamilie bestand in den neunziger Jahren darin, dass der kolossale Wohlfahrtsstaat nicht nur ein Segen, sondern auch eine Last darstellt. Nicht nur, weil er den Steuer- und Beitragszahler zu viel Geld kostet, sondern vor allem, weil er seine Klienten nur verwaltet, ihnen aber zu nichts verhilft.

Die besonders in den skandinavischen Ländern praktizierte Konsequenz aus dieser Diagnose bestand darin, dass der Wohlfahrtsstaat unter sozialdemokratischer Regie von einer Anstalt zum Schutz der kleinen Leute gegen die Unwägbarkeiten der Märkte zu einer Agentur der Befähigung des Einzelnen für Märkte umgebaut wurde.

Das linke Denken war immer schon eng verbunden mit dem Begriff der Arbeit. Und Arbeit, das hieß: Produktion von gesellschaftlichem Mehrwert zum Wohl des Ganzen und des Einzelnen. So wurde Arbeit zu einer moralischen Kategorie: Wer sie hatte, war in seiner Existenz gerechtfertigt und erwarb sich als nützliches Glied der Gesellschaft Ansprüche auf Wohlfahrt und Sicherheit. Die Parole "Arbeitsplätze schaffen!" beruht auf diesem Denken und wird durch dieses Denken auch begrenzt.

Tatsächlich denkt unsere Gesellschaft nicht mehr so. Seit den achtziger Jahren hat sich auch in der internationalen Sozialdemokratie der Begriff der Arbeit geändert. Arbeit ist nicht mehr allein ein Faktor in volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, sondern immer auch ein Effekt der Planungen und Initiativen des Einzelnen, der Qualifikationen erwirbt, Bewegungen unternimmt und seine Fähigkeiten anbietet.

Linkspartei-Ikonen Lafontaine (li.) und Gysi (Foto: Foto: dpa)

Wie die Leute sich auf Arbeitsmärkten verhalten, ist eben nicht nur von der Nachfrage nach standardisierter Arbeit abhängig, sondern hat auch etwas mit dem Angebotsverhalten der Einzelnen zu tun. Der aus der marxistischen Tradition bekannte Kollektivbegriff der Arbeitskraft wurde so unter dem Eindruck eines neuen mikroökonomischen Denkens in den Individualbegriff des Arbeitsvermögens verwandelt.

Die Frage der Zumutbarkeit spielt dabei ein wichtige Rolle. Das neue, maßgeblich von sozialdemokratischen Regierungen durchgesetzte wohlfahrtsstaatliche Regime des "Forderns und Förderns" hat hier seinen Grund.

Anreize und Sanktionen sollen die Leute in die Lage versetzen, den Unvorhersehbarkeiten der Märkte nicht nur passiv ausgesetzt zu sein, sondern sich auf Grundlage eigener Fähigkeiten mitbewegen zu können. Der englische Begriff dafür heißt "agency" und meint die Fähigkeit, sein Leben selbstverantwortlich meistern zu können. "Echte" wohlfahrtsstaatliche Hilfe kann dann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.

Keine innerparteiliche Aufräumaktion

Dafür reichen aber die klassischen Mittel staatlicher Politik nicht mehr aus. Mit der Zuteilung positiver Rechte und mit der Zuweisung von Finanzmitteln ist es nicht getan. Sozialpolitik muss sich auf der einen Seite in den schwierigen Bereich einer lebenspraktisch folgenreichen Wiederherstellung von Handlungsautonomie unter der Bedingung unwägbarer Handlungschancen begeben.

Wie kann man die Leute davon überzeugen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen, obwohl man ihnen nichts versprechen kann? Auf der anderen Seite kann man auf Sanktionen als Mittel der Verhaltensbeeinflussung nicht verzichten.

Alle sozialdemokratischen Parteien haben sich mit dieser Wende ihrer Programmatik schwergetan und sie mussten sie in der Regel mit der Reduktion der Stammwählerschaft bezahlen. Aber wie vor allem die Beispiele von Schweden und Großbritannien zeigen, muss das nicht den Machtverlust zur Folge haben.

Eine Bedingung der Meisterung dieses schwierigen ideologischen Manövers ist die Einführung einer dezidierten Differenz zwischen einer "alten" und der "neuen" Sozialdemokratie. Das hat in erster Linie Tony Blair betrieben. "New Labour" ist heute das klassische Modell einer beherzten Weiterführung der sozialdemokratischen Erzählung. Auf eine ähnliche innerparteiliche Aufräumaktion hat Gerhard Schröder in der SPD verzichtet. Deshalb gibt es im Augenblick auch niemanden, der die Rolle eines scharfen Unterscheiders spielen könnte.

Vergebliche Suche

Das ist trotz der jüngsten emotionalen Annäherung zwischen Schröder und der Partei der Eindruck fürs politische Publikum: Man nimmt Schröder den Willen zur Reform des deutschen Sozialstaats zwar ab, aber man misstraut der Bereitschaft der Partei, ihm im Zweifelsfall zu folgen. Viele mittlere und auch einige höhere Kader in der Partei träumen lieber den Zwanziger-Jahre-Traum einer Vereinigung der Linken, als dass sie zum Schnitt mit denen bereit wären, die von der alten Welt des deutschen Verteilungsstaates nicht lassen wollen.

Selbst im jüngeren Führungspersonal sucht man vergebens nach einer Figur, die sich um die vernachlässigte geistige Problematik von Schröders Erbe kümmern würde. Andrea Nahles hat sich mit der Bürgerversicherung hinter einem Projekt verschanzt, das gerade nicht den Geist von New Labour hat.

Bei ihr kann man sich nicht sicher sein, ob sie unter dem machtpolitischen Phantasma einer Vereinigung der deutschen Gefühlslinken Oskar Lafontaine nicht doch noch den Teppich ausrollt. Sigmar Gabriel scheint die Botschaft der globalen Sozialdemokratie zwar verstanden zu haben, aber man traut ihm die Bereitschaft zur Zuspitzung nicht zu. Aber eine Zukunft ohne Schröder hat die SPD nur auf Grundlage eines Verständnisses ihrer Vergangenheit mit Schröder.

Heinz Bude, geboren 1954, ist Professor für Soziologie in Kassel.

© SZ v. 22.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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