Bürgerlichkeit:Alles verdampft

Lesezeit: 4 min

Ijoma Mangold über die Union, Frau Merkel, und die Unmöglichkeit, konservativ zu sein.

Von Ijoma Mangold

Der Schriftsteller Moritz Rinke fragte kürzlich in einem sehr vergnüglichen Artikel für den Tagesspiegel, wo denn eigentlich die gute alte CDU bleibe und mit ihr das, was man konservativ zu nennen pflege. Dass es schwierig für die CDU werden würde, eine "konservative" Arbeitsmarktpolitik zu formulieren, das leuchtete Rinke ein. Aber dann möge die Partei doch bitte wenigstens auf anderen Feldern Farbe bekennen.

Zum Beispiel bei Baden-Württembergs Sozialminister Andreas Renner, dem, wie Rinke sehr genau schreibt, "ersten CDU-Minister mit Ring im Ohr!" Da hätte sich Rinke von Angela Merkel ein beherztes Machtwort gewünscht: "Der Ohrring in Baden-Württemberg, der kommt definitiv raus." Statt dessen erklärte Angela Merkel der Bild-Zeitung, in Lebensfragen solle jeder selber entscheiden.

Ja, wenn wir schon so weit sind, dass in Lebensfragen jeder selber entscheiden soll, dann ist es mit dem Konservativen nicht mehr sehr weit her. Konservativismus, das war einmal das Versprechen von verlässlicher Orientierung gerade in Fragen der Lebensführung - und zwar unter der impliziten Prämisse, dass es dabei ein Richtig und ein Falsch gibt. Es war Sinnstiftung gegen das anything goes und ein Verbindlichkeitsangebot im Kleinen, um mit diesem Rückhalt die nicht bestrittene Wandlungsdynamik im Großen zu bestehen.

Vielleicht vor allem dieser Spagat gehört der Vergangenheit an: Dass man als moderne Wirtschaftsnation an der Dynamik des technologischen und ökonomischen Fortschritts aus voller Kraft partizipieren und zugleich auf der Ebene der privaten Lebensführung, der Häuslichkeit und der familiären Reproduktion bestimmte Werte, Normen und Gepflogenheiten stabil halten könne. Denn dieses eben macht den expansiven Charakter des Kapitalismus aus: Dass er nicht nur ein wirtschaftliches Prinzip ist, sondern alle Bereiche des sozialen wie des kulturellen Lebens sich anverwandelt und umgestaltet. Seine Dynamik ist nicht auf den Arbeitsplatz einzuhegen.

Eine der wichtigen konservativen Kernüberzeugungen zum Beispiel war immer, dass sich der Staat aus Erziehungsfragen so weit wie möglich herauszuhalten habe. Erziehung finde in der Familie statt. Deshalb hat man lange und bisweilen recht verbissen gegen das Ganztagsschulprinzip gekämpft. Man kann die Gründe gut verstehen. Trotzdem ist dies eine unhaltbare Position geworden.

Nicht nur, weil Volkswirtschaften es sich nicht länger leisten können, auf das weibliche "Humankapital" zu verzichten, sondern weil der Kapitalismus Arbeit insgesamt zum entscheidenden Medium des Selbstausdrucks umgeformt hat - für Männer wie für Frauen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist deshalb heute parteiübergreifend ein Gemeinplatz, Ganztagsschulen unabdingbar. Eine extra konservative Position dazu ist nicht vorstellbar.

Mehr Haltung als Programm

Ohnehin war Konservativismus immer eher eine Haltung als ein explizites Programm. Es war ein Gestus der habituellen Skepsis und des Maßhaltens. Der Begriff konservativ funktionierte, als sich das politische Leben noch in Lagern organisierte. Konservativ war dann vor allem das Misstrauen gegenüber den hochfliegenden Erlösungsvisionen des politischen Gegners, der seine utopischen Weltbeglückungsprogramme und Träume vom Neuen Menschen als progressiv verkaufte.

Dagegen konnte der Konservative eine Mischung aus pessimistischem Menschenbild, unverstelltem Realismus und einen gewissen kalten Machtbegriff in Stellung bringen (Der Konservative setzte gegen den Moralismus der Linken idealtypischerweise einen abgebrühten Zynismus). Konservativ war vor allem die Weigerung, an die Neuerfindung des Menschen zu glauben. Da hatte man schon eher Vertrauen in gewachsene Institutionen und gesellschaftliche Kontinuitäten: "Keine Experimente" und "Weiter so!" lauteten die entsprechenden Slogans.

Doch diese Frontstellung ist passé. Und damit die Möglichkeit, das Konservative als den gesunden Menschenverstand in Abgrenzung zu fiebrigen Menschheitsvisionen zu definieren. Schon weil der heftigste Veränderungsfuror heute nicht mehr von gesellschaftspolitischen Phantasien, sondern von der Dynamik der globalisierten Märkte ausgeht.

"Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht", so beschreibt das "Kommunistische Manifest" den Kapitalismus. Dieser Verdampfungstendenz kann auch eine konservative Partei kein geschlossenes Weltbild mehr entgegensetzen, weil die geschlossenen Weltbilder selbst die ersten Opfer dieses umfassenden Wandlungsprozesses waren. Um auf Andreas Renner zurückzukommen: Natürlich könnte man sagen, es ist für einen Mann, einen Herrn, schöner, würdiger und angemessener, wenn er keinen Ohrring trägt - aber das wäre erkennbar eine Privatmeinung, die sich nicht mehr auf die unhinterfragten Verbindlichkeiten eines irgendwie mehrheitsfähigen Milieus stützen könnte. Als subjektiv würde eine solche Meinung empfunden werden. Und mit dem Subjektivismus kommt als sein Zwillingsbruder der Relativismus.

In die Katakomben

Was man deshalb in den letzten Jahren als traute Renaissance des Konservativismus beobachten kann, bezieht seinen Schwung deshalb gerade nicht aus seiner Verbindlichkeit, sondern umgekehrt aus dem Bewusstsein der Bedrohtheit - und hat stets etwas Angestrengtes und Verschwitztes. Es ist ein Konservativismus der Defensive, der Abwehr und der Verunsicherung, keiner der Stärke und des Selbstbewusstseins. Er lebt gerade nicht aus der selbstverständlichen Fülle der Überlieferung, sondern von dem panischen Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben.

Des kleinen Mannes notorische Ansicht, dass alles schlimm enden werde, ist das theoretische Fundament seiner Zeitdiagnostik. Die kongeniale Galionsfigur dieser düsteren Tendenzwende ist der Fernsehmoderator Peter Hahne mit seinem Nummer-eins-Bestseller "Schluss mit lustig!" Da ist der Konservativismus plötzlich mit dem Spießbürgerlichen identisch geworden. Etwas Klemmihaftes, Unfreies und Unfrohes eignet ihm.

Konservativ könnte man auch ein neues Formbewusstsein nennen. Wenn zum Beispiel die Nachfrage nach Benimmkursen steigt, weil der Kreis derer, die gerne einen Handkuss vollendet ausführen und ihren Salat ohne Einsatz des Messers im Mund verschwinden lassen können wollen, wächst, dann mag auch das eine Reaktion auf eine latente Auflösungsangst sein: Es geht eben nicht, wie Theodor Fontane gesagt hätte, ohne Hilfskonstruktionen. Das muss man nicht schmähen, das muss man nicht lächerlich machen (auch wenn ein Benimmkurs nach Abschluss des BWL-Studiums zu spät kommt, um jene natürliche Anmut hervorzubringen, auf die aller Comment eigentlich abzielt).

Es ist aber eine rein private, geradezu voluntaristische Entscheidung - wie das Nachtgebet, das vielerorts auch in ansonsten areligiöse Familien wieder einzieht, damit der Tag an Struktur gewinnt und nicht zerfranst. Es drückt sich darin die Einsicht in die Formbedürftigkeit des nackten Lebens aus. Zu einem politischen Programm einer großen Volkspartei lässt es sich nicht verallgemeinern. Die Union ist keine Honoratiorenpartei mehr.

Viele klassische konservative Positionen vertragen sich - nicht nur im Bereich der Gentechnik - mit einer modernen Wirtschaftsnation nur schlecht. Sie sind fortschrittsskeptisch. Wollte eine Partei in diesem Sinne versuchen, Profil zu beweisen, dann entschiede sie sich gewissermaßen für die Ratzinger-Variante: Den Weg in die Katakomben. Das mag einer Kirche vielleicht gut anstehen, die das Risiko der gesellschaftlichen Selbstmarginalisierung der Gefahr des inhaltlichen Substanzverlustes vorzieht - für eine politische Volkspartei ist das kein Ort.

Das Konservative wird deshalb eher überleben als ästhetische Attitüde und kulturelles Bewusstsein der Wenigen, als ein exzentrisches Dandytum vielleicht auch, aber nicht als politische Sammlungsbewegung. Namentlich für die Deutschland AG gilt: Was ihr fehlt, ist wieder Mut und Lust an der produktiven Zerstörung, damit sie den Wandel nicht nur als Verlust von Lebensglück, sondern auch als dessen Steigerung wahrnimmt.

© SZ vom 30. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: