Buchtipp: "Der Wagner-Clan":Ein wildes Geschlecht

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Witwen, Waisen, Villa Wahnfried: Wie der Denver-Clan ist auch der Wagner-Clan geprägt von Schicksalsschlägen und Familiengeheimnissen. Pünktlich zu den Festspielen gibt es nun ein Buch über die Wagners.

Stephan Speicher

Am 22. Oktober 1927 frühstückt Harry Graf Kessler, der "rote Graf", bei Elisabeth Förster-Nietzsche. Und sie hat ihm etwas zu erzählen.

"Kinder, schafft Neues!" Wolfgang Wagner mit Tochter Katharina. (Foto: Foto: ddp)

Sie habe sich "mit Bayreuth ganz ausgesöhnt. Im vorigen Jahr, während der Festspiele hier für Siegfried Wagner, habe zuerst die Gräfin Gravina (Blandine, Tochter aus der ersten Ehe Cosima Wagners mit Hans von Bülow) vorgefühlt und dann die ganze Familie Wagner bei ihr Besuch gemacht; sie habe für sie ein Frühstück gegeben, und bei diesem sei die Versöhnung dann feierlich besiegelt worden, indem sich alle um den Tisch herum die Hände gegeben hätten und sie die ,Sternenfreundschaft' ihres Bruders vorgelesen habe."

Und Kessler kommentiert: "So klingt die große, welterschütternde Fehde Richard Wagner - Nietzsche, der ,Fall Wagner', am Kaffeetisch aus, niedlich und ganz im Stil der beiderseitigen Epigonen. Damit auch die Hofatmosphäre, die für Bayreuth so bezeichnend ist, nicht fehle, hat die ,Fürstin von Albanien' der Szene beigewohnt und gerührt von der Versöhnung Kenntnis genommen."

Das ist Wagner und seine Wirkungsgeschichte. Ein Werk von ungeheurer Bedeutung - welcher andere Komponist hätte eine Reaktion auf dem Niveau Nietzsches hervorgerufen? - und seine Nachverhandlung an der Kaffeetafel. Bei der Gemütlichkeit bleibt es nicht. Die Leute, die sich da bei der Hand fassen, sind schon dabei, Wagner und Bayreuth (und Nietzsche natürlich auch) an Hitler auszuliefern.

Und doch darf man sich das Bayreuth dieser Jahre nicht bloß als die Ruine einer großen Idee vorstellen. Für die Neuinszenierung des "Tannhäuser" 1930 wird Arturo Toscanini eingeladen. Und Toscanini, der prominenteste und bestbezahlte Dirigent dieser Jahre, ein Mann der glauben durfte - und so wurde es auch von Dritten gesehen -, es seien die Festspiele, die ihm zu danken hätten und nicht er ihnen: Toscanini verzichtete auf jede Gage aus Respekt vor dem Ort und seiner Tradition.

Waisen in trübgrünem Meer

Das Interesse, das Bayreuth und der Familie Wagner bis heute entgegengebracht wird, hat also Gründe. Die Momente des Fortsetzungsromans gehören sicher dazu, aber da ist vor allem der Eindruck, hier verdichte sich die Geschichte der deutschen Kultur.

Was Charles de Gaulle in der Zwischenkriegszeit über Deutschland sagt, "ein erhabenes und zugleich trübgrünes Meer, dem des Fischers Netz wahllos Ungeheuer und Schätze enthebt", das gilt auch von Wagner und seiner Familie.

Jonathan Carr, der de Gaulle zitiert, hat das zum leitenden Gedanken seines Buches über die Familie Wagner gemacht. Carr, langjähriger Deutschland-Korrespondent der Financial Times und Biograph auch von Helmut Schmidt und Gustav Mahler, ist vor wenigen Wochen mit 66 Jahren gestorben.

Was ein Buch wie "Der Wagner-Clan" rechtfertigt, ist nicht allein die krude Tatsache, dass die Bayreuther Festspiele, lange Zeit eine ideologische Großanlage Deutschlands, in dritter und bald wohl in vierter Generation von Mitgliedern der Familie Wagner geführt werden.

Zwischen Unglück und Schuld

Noch interessanter ist, in welcher Weise die einzelnen Wagners durch die Familie, deren Unglücke und Pathologien, bestimmt sind. Es beginnt schon mit dem Stifter der kleinen Dynastie. Fünf Monate nach der Geburt Richard Wagners stirbt sein Vater, schnell wächst das Gerücht, der Pflegevater Ludwig Geyer sei auch der physische.

Elternlosigkeit, Heimatlosigkeit, das wird ein Grundgefühl nahezu aller Wagnerschen Hauptpersonen. Senta und der Fliegende Holländer, Elisabeth und Tannhäuser, Elsa und Lohengrin, Tristan, Eva (in den "Meistersingern"), Siegmund, Sieglinde und Siegfried (im "Ring"), Parsifal - sie alle sind Waisen, Halbwaisen oder Figuren, die aus dem Nichts kommen, ortlos, heimatlos, bereit, alles aufzugeben.

Das erlebt auch Cosima, uneheliche Tochter des Franz Liszt und der Gräfin d'Agoult. Ihre Eltern trennen sich, führen einen hasserfüllten Kampf um die Kinder, setzen dabei Geld ein und einige Sorgfalt, sind aber von entschiedener Lieblosigkeit.

Überspannte Demut

Cosima - der Oliver Hilmes im vergangenen Jahr eine eigene Biographie widmete - ist eine soziale Waise, das kann eine Erklärung sein für ihre überspannte Demut Richard Wagner gegenüber. Das Schicksal setzt sich in Richards und Cosimas Kindern auf verdrehte Weise fort.

Als Richard Wagner 1883 stirbt, werden die Töchter ganz auf die Zukunft ihres Bruders Siegfried, des einziges Sohnes, verpflichtet. Auf ihn ergießt sich die Fürsorge der Muter und der drei Schwestern, wie soll er darunter je hervorkriechen?

Es ist erstaunlich, wie positiv Carr Siegfried Wagner beurteilt. Dass er ein umgänglicher Mensch war, wird oft berichtet. Als Komponist zahlreicher Opern (vor allem mit märchenhaften Zügen) blieb er immer in der zweiten Reihe, Carr taxiert ihren Kunstwert deutlich höher, als es üblicherweise geschieht.

Auf Seite 2: Hitlers Bayreuth.

Vor allem aber glaubt er nicht, dass es Siegfried war, der Hitler den Weg nach Bayreuth gebahnt habe. Bemerkenswerte Briefe sprechen für diese Sicht. Es gibt aber auch Zeugnisse, die dem entgegenstehen; Brigitte Hamann in ihrer Biographie Winifreds, der Ehefrau Siegfrieds, breitet sie aus.

Auch die ganz unintellektuelle Atmosphäre in der Familie Siegfrieds und Winifreds - kaum anders als auf einem hinterpommerschen Gutshof, wie es hieß - ließe sich schärfer beleuchten. Mit Winifred hat man dafür gleich eine weitere Figur, die die Familiengeschichte der Wagners so interessant macht.

Wieder eine Waise, aufgezogen von dem damals schon sehr alten Pianisten Karl Klindworth und seiner Frau; ihre Kindheit bei den Klindworths ist voller Liebe und Verständnis, dabei wagnerdurchglüht und lebensreformerisch.

Während des Ersten Weltkriegs heiratet sie Siegfried, gebiert in rascher Folge vier Kinder und setzt damit die Dynastie fort. Nach dem Tod ihres Mannes 1930 nimmt sie die Festspiele in die Hand, übersteht die Anfeindungen ihrer Schwägerinnen - allesamt in ihrem Leben unglücklich - und richtet sich und die Festspiele ganz auf Adolf Hitler aus.

Es ist ein gewaltiger Stoff, den Carr auf knapp 500 Seiten zu bewältigen hat. Und natürlich ist das moralische Scheitern Bayreuths im Nationalsozialismus eine leitende Frage. Der Erste, dem man sie stellen muss, ist Richard Wagner.

Wie steht es mit dessen Antisemitismus? Carr hat die reiche Literatur zur Sache studiert, geht geistig hin und her und kommt zuletzt zu einer freundlichen, aber gut begründeten Antwort. Die antisemtischen Ausfälle sind bekannt, sie sind ekelhaft, aber Wagner habe sich ähnlich auch über Nichtjuden geäußert.

Haben Judenkarikaturen Eingang in die Musikdramen gefunden? Die Spur, die Adorno fand oder legte, scheint Carr nicht überzeugend. "Wenn Wagner eine klare Rassenbotschaft überbringen wollte, ist ihm das nicht sehr gelungen." Auch hier sieht Carr "Wagners Rundum-Ambivalenz in der ganzen Frage".

Hitlers Spezialgeschmack

Was ganz dazu passt: Hitler war Wagnerianer, aber auf seine Parteigenossen machte er damit wenig Eindruck. Nicht bloß die "alten Kämpfer", die hochgespülten Schlägertypen, konnte man mit Wagner nicht von der Bierbank hochreißen. Auch die gut ausgebildeten, kulturbeflissenen jungen Männer der SS hielten Wagner für überlebt, schwülstig, für den persönlichen Sparren des "Führers".

Carr fällt auf, wie wenig Hitler über Wagner sprach. Als Kronzeugen seines Antisemitismus benutzte er ihn nicht. Und dabei war Bayreuth doch ein Treibhaus des Rassendenkens, Houston Stewart Chamberlain (wieder ein Waise) mit der Wagner-Tochter Eva verheiratet.

Dass Bayreuth 1945 politisch-moralisch kontaminiert war, das war auch den Söhnen Winifreds klar, als sie nach dem Krieg sich um einen Neubeginn bemühten. Es ist die nächste Generation familiären Unglücks. Zwist zwischen den Brüder Wieland und Wolfgang, Eheprobleme, Spannungen überall.

Und wieder findet man bei Carr Szenen, die die seelische Verfassung Deutschlands in einem wagnerianischen Bild zeigen. Die scharfe Modernisierung etwa, die Wieland Wagner in der Villa Wahnfried vornahm: halb Verarbeitung des Geschehenen, halb Verdrängung.

Ganz neu ist in diesem Buch wenig. Der Autor hat sich im Wesentlichen an die bekannte Literatur gehalten, Archivfunde sind Ausnahmen. Das Cosima-Bild ist stark nach den Studien von Franz-Wilhelm Beidler modelliert, das des Nachkriegs-Bayreuth durch Renate Schostacks "Hinter Wahnfrieds Mauern" bestimmt.

Das Schicksal, ein Wagner zu sein

"Der Wagner-Clan", das muss man sich vergegenwärtigen, heißt mit genauem Grund so, es ist nicht die Geschichte Bayreuths, so sehr sich die Sphären der Familien und der Festspiele berühren.

Aber das sind keine Einwände. Jonathan Carr hat ein ganz ungewöhnlich interessantes Buch geschrieben, mit all den Vorzügen, die man Biographien britischer Autoren gern und oft zu Recht unterstellt. Carr schreibt zügig, genau, witzig, und er hat - was vielleicht das Schönste ist - einen unbefangenen Blick.

Er verharmlost nichts, aber er eifert auch nicht. Er erzählt von einer Familie, deren Mitglieder über mehr als 150 Jahre eine bestimmende Rolle im künstlerischen Leben Deutschlands gespielt haben, durch Abkunft privilegiert, aber mehr noch belastet. Sich davon durch Carr erzählen zu lassen ist eine Freude. Kein Vergnügen aber ist es offenbar, ein oder eine Wagner zu sein.

JONATHAN CARR: Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 496 Seiten, 25 Euro.

© SZ vom 23.7.2008/mst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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