Buchmesse:Schreie und Flüstern

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Die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan am Donnerstag auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: Regina Schmeken)

Die Türkei entfernt sich immer weiter von Europa. Auf einer bedrückenden Veranstaltung sprechen Aslı Erdoğan, Can Dündar und Burhan Sönmez über das Schreiben im Exil.

Von VOLKER BREIDECKER

Unter den Straßen Istanbuls liegt ein Gefängnis. Vier Häftlinge teilen sich dort eine finstere Zelle und erzählen einander Geschichten. Unterbrochen wird der an das "Dekameron" Boccaccios erinnernde Erzählreigen vom häufigen Ächzen der schweren Eisentür, was jedes Mal bedeutet, dass einer der vier zum Verhör abgeholt wird, um Tage danach als blutig geschundenes Menschenbündel zurückzukehren. "Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz", beginnt der Erzähler des ersten Tags: "In Istanbul hatte man nie zuvor einen solchen Schneefall erlebt ..." Weit kommt er nicht mit seiner Erzählung, unterbrochen von einem seiner Mitgefangenen, der ihn bittet, eine andere Geschichte zu erzählen: Denn Eiseskälte herrsche in der Zelle selbst schon genug. Also setzt der Erzähler wieder neu an: "In Istanbul hatte man nie zu vor einen derart heißen Tag erlebt ..." Doch was folgt, ist dieselbe Geschichte wie zuvor.

So parabelhaft beginnt der im Jahr 2015 erschienene, jetzt ins Deutsche übersetzte Roman "Istanbul Istanbul" (aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, btb Verlag, München) von Burhan Sönmez, der, nachdem er 1996 aufgrund eines polizeilichen Übergriffs schwerste Verletzungen davongetragen hatte, zehn Jahre lang im britischen Exil lebte. Heute lebt er wieder in Istanbul, und er fühlt sich wie einer seiner Romanfiguren, die jederzeit mit dem "Ächzen der Eisentür" rechneten. Und doch will er bleiben, wenigsten bis zu dem Tag, an dem der gegenwärtige türkische Machthaber abtritt. Sönmez sagte dies bei einem Pressegespräch, zu dem Messedirektor Juergen Boos ihn und zwei prominente Sprecher der türkischen Opposition eingeladen hatte: Aslı Erdoğan, die auf der Buchmesse 2008 noch dem türkischen Ehrengastteam angehörte und die ihre vorläufige Freilassung aus der Untersuchungshaft einer internationalen Kampagne verdankt, und Can Dündar, der langjährige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, der jetzt im Berliner Exil lebt. Dündar hatte an derselben Stelle schon vor einem Jahr an Deutschland und Europa appelliert, den Verlust der modernen, säkularen Türkei, die bereits einmal auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen gewesen war, aber allzu lange vergeblich vor Europas verschlossenen Türen um Einlass bat, nicht hinzunehmen. Vergeblich war auch diese Mahnung. Unterdessen hat sich die Türkei weiter denn je von einem Europa entfernt, das das Land, statt es aufzunehmen, "in die Arme Russlands und des Irans getrieben" hat, wie Dündar jetzt feststellte.

"Ist da draußen jemand?", lautet die Frage der Gefangenen wie der Geflohenen

Bedrückend - ungleich bedrückender noch als im Vorjahr - war die Atmosphäre dieses Gesprächs. Was allen drei Autoren an Optimismus geblieben ist, gleicht, wie Aslı Erdoğan sagt, jener Hoffnung, die bei wachsender Verzweiflung auch Gefangene nicht aufgeben. Während sie selbst sich noch in einer Phase befände, die ihr nur zu flüstern erlaube, zieht Dündar es vor, laut aufzuschreien, wie es ihn die Zeit im Gefängnis lehrte: Der Gefangene verbringt seine Tage mit dem Lauschen nach Tönen, die durch die Wände dringen: "Is there anybody out there?" - "Ist da draußen jemand", der einen hört? Bis die Stimmen endlich anschwellen, und die Gefangenen den Schrei von Zelle zu Zelle als einzige Möglichkeit der Kommunikation nutzen. "Ist jemand da?" - "Are you there?", fragte sich auch Aslı Erdoğan, als sie am Leib verborgene Kassiber aus der Haft schmuggelte, von denen eines die Buchmesse des vergangenen Jahres erreichte und dort öffentlich verlesen wurde.

Proteste allein helfen nicht. Dündar versucht auf einer von Berlin aus verbreiteten Website, wenigstens die Menschen in der Türkei zu erreichen, die Erdoğan - immerhin die Hälfte aller Türken - nicht gewählt haben. Doch wird auch der Zugang über das Internet blockiert. Global wie der Angriff autoritärer Machthaber auf die Meinungs- und Pressefreiheit, auf Menschenrechte und Demokratie könne Dündar zufolge auch die Antwort darauf nur eine globale sein: damit angefangen, die vielen Geschichten der in türkischen Gefängnissen einsitzenden Autoren in aller Welt weiterzuerzählen.

© SZ vom 13.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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