Buch: Streit:Betörend wie der Unterschnabel eines Kugelkopfs

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Nicholson Baker und das Bewahren von altem Papier: der Feldzug eines Schriftstellers gegen die Bibliotheken.

Alles begann mit der Zettelkasten-Affäre, im April 1994. Damals veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker im New Yorker den Essay "Discards", eine furiose Polemik gegen die Ausmusterung der Zettelkataloge zugunsten der neuen, elektronischen Kataloge in den Bibliotheken. Der Verfasser war ersichtlich ein Virtuose im Umgang mit Zettelkataloge.

Mit nicht geringem Sarkasmus geißelte er die Kinderkrankheiten des Online-Bibliographierens. Aber er begnügte sich nicht damit, die Modernisierungseuphoriker in den Bibliotheken dadurch herauszufordern, dass er die neue Erschließungstechnologie gegenüber der alten als hoffnungslos unterlegen erscheinen ließ. Ihr dürftet, rief er den Bibliothekaren zu, die alten Kataloge selbst dann nicht wegschmeißen, wenn die neuen besser wären.

Denn wisst Ihr, was Ihr tut, wenn Ihr ein paar von den alten Karteikarten behaltet und den Rest in den Shredder gebt? Ihr vernichtet die ungeschriebene Autobiographie Eurer Bibliothek, ihr vernichtet ein Magazin voller ungeschriebener Geschichten des Wissens, die sich in den Schreibmaschinentypen und den Handschriften, den Notizen und selbst im Format der Karteikarten verbergen. Ihr vernichtet nicht nur die möglichen Gegenstände einer künftigen "Paläographie" Eurer Bibliothek, ihr vernichtet einen Teil der Literaturgeschichte!

Ein Katalog ist kein Kultobjekt

Kurz, die Bibliothekare hatten bei der Lektüre des Essays die Wahl, in wem sie sich lieber wiedererkennen wollten, in denen, die die Bibliothek von Alexandria dem Feuer überantwortet oder in den Leuten, die im England des sechzehnten Jahrhunderts die Klöster zerstört hatten. Viele waren empört, für manche war es der Beginn einer wundervollen Feindschaft.

Nicholson Baker? Ist das nicht dieser hoffnungslos sentimentale Typ mit dem Flohmarkt-Blick auf Bibliotheken? Einer von den Nostalgikern, die ihren Nippes in alten Setzkästen drapieren uns mit Museen verwechseln? Was, der hat die anonymen Ersteller der Zettelkataloge mit den Erbauern der mittelalterlichen Kathedralen verglichen? Dem soll mal ein Profi die einfache Wahrheit klar machen: ein Katalog ist ein Katalog ist ein Katalog und kein Kultobjekt, und wir sind nicht zu blöd, alte Wissens- und Erschließungstechniken in neue Technologien zu übertragen.

Ja, die inzwischen schon über ein Jahrzehnt lang anhaltende Affäre zwischen Nicholson Baker, den Bibliotheken und den Bibliothekaren ist die Geschichte einer Obsession. Aber nach dem einfachen Schema, in dem Baker ein Nachfahre der Ludditen und Maschinenstürmer im Zeitalter der Modernisierung der Speichermedien wäre, lässt sie sich nicht erzählen. Denn Nicholson Baker, Jahrgang 1957, geboren in Rochester (New York), ist ein Kind des Zeitalters der Mondlandung, und er ist, auch als Schriftsteller, ein überaus einheimischer Bewohner der modernen Alltagswelt, einschließlich der Telekommunikation und der elektronischen Computerwelten.

Schlägt man zum Beispiel sein in den achtziger Jahren geschriebenes Buch "Room temperature" (1990, dt. "Zimmertemperatur", 1993) auf, so gerät man in ein Gewirr aus virtuellen und realen Experimenten mit allerlei Haushaltsgeräten oder mit den Ventilationskanälen im Innenraum von Düsenflugzeugen.

Eine gewisse Berühmtheit auch außerhalb des literarischen Publikums gewann Baker, als Monica Lewinsky seinen hinreißenden Telefonsex-Roman "Vox" (1992) dem damaligen Präsidenten Bill Clinton schenkte. Und in seinem Roman "A box of matches" (2003, dt. "Eine Schachtel Streichhölzer", 2005) sagt er von den Bewegungen des Unterschnabels, mit denen seine Hausente Wasser aus der blauen Schale schöpft: "das geht wie der Kugelkopf einer alten IBM Selectric".

Im Jahre 2001 ist die Originalausgabe von Nicholson Bakers Buch "Double Fold" erschienen. Inzwischen ist es, unter dem Titel "Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen" auch auf Deutsch zu haben. Es hat in Amerika dem Vorgeplänkel der Zettelkastenaffäre ganze Kaskaden von Streitgesprächen und Polemiken folgen lassen. Denn in diesem Buch dringt Baker von den Katalogräumen ins Innerste der Bibliotheken vor: in die Magazine und in die Verwaltungsabteilungen.

Er attackiert große Institutionen wie die British Library in London und die Library of Congress in Washington, polemisiert namentlich gegen führende amerikanische Archivare, Bibliothekare und Restauratoren. Die Anklage lautet: unter dem Vorwand der Bestandserhaltung zerstören die Bibliotheken faktisch große Teile ihrer Bestände, statt sie, wie es ihre Aufgabe wäre, zu bewahren.

Im Zentrum stehen zwei prominente Methoden der Bestandserhaltung: die Massenentsäuerung und die Mikroverfilmung. Beide haben einen gemeinsamen Hintergrund, den so genannten "Papierzerfall". Er betrifft Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, aber auch Manuskripte aus der Zeit zwischen etwa 1850 und 1970. Denn zwar war der Holzschliff, den Gottlob Keller 1843 als Ersatzstoff für die Hadern (mittelhochdeutsch für "Lumpen") fand, aus denen das Papier traditionell hergestellt wurde, eine vergleichsweise unerschöpfliche Ressource. Aber mit der industriellen Fertigung von Papier auf Holzbasis und der Massenleimung unter Zusetzung von Aluminiumsulfat begann die Säure in das Papier Einzug zu halten und darin auf lange Sicht ihre zersetzende Wirkung zu entfalten.

Nicholson Baker, das weiß jeder seiner Leser, ist ein Meister in der Beschreibung der Dingwelt und ihrer kleinen und großen Tücken, ein wortmagischer Daniel Düsentrieb, der prosaischen Gebrauchsanweisungen ihre surrealistischen Doppelgänger an die Seite stellt, ein Tüftler und Bastler, der keinen Schlauch, keinen Bedienungsknopf und keine Scheibenwaschanlage ansehen kann, ohne ihnen kleine Geschichten abgewinnen zu wollen, in denen die Dinge selbst die Helden sind.

Nicht weil er ein Nachfahre der vormodernen Welt wäre, ist Nicholson Baker in seinen Clinch mit den Bibliotheken geraten, sondern weil er als Autor der Obsession an den Dingen verfallen ist. Es gibt für ihn keine Datenträger, deren Informationen sich schadlos von ihnen ablösen ließen: alle Datenträger sind für ihn integrale Objekte, deren Integrität es zu wahren gilt.

Darum beschreibt er mit überwachem Sinn für makabre Pointen das (inzwischen längst als Irrweg erkannte) Verfahren der Laminierung von Buchseiten und sogar alten Handschriften, bei denen die Mythologie des "ewig haltenden" Plastiks ihre Tribute forderte, darum wird er nicht müde, die Geschichte der Desaster und explosiven Pannen bei der Entwicklung von Verfahren der Massenentsäuerung bis hinein in das letzte Reagenzglas zu erzählen.

Darum lässt er, gestützt auf einen voluminösen Anmerkungsapparat, Heerscharen von Interviews und Protokollen aufmarschieren, die belegen, welche ruinösen Konsequenzen die (noch unausgereiften) Verfahren der Mikroverfilmung für die Bücher haben konnten, die ihnen unterworfen wurden.

Darum stört ihn der Eckenknick, dessen Erfindung als Prognoseinstrument zur Vorherbestimmung der Lebensdauer von Büchern er in einem eigenen Kapitel anschaulich beschreibt. Je weniger oft man die untere rechte Ecke eines Buches hin und her knicken kann, desto kürzer ist die Lebenserwartung des Buches. Nein, sagt Nicholson Baker, eine Buchseite ist zum "nicht-scharfen Biegen" gemacht, nicht zum Umknicken: "wenn man die Elastizität einer Uhrfeder feststellen wollte, würde man dann ein kurzes Stück davon hin- und herbiegen, bis es abbricht?"

Radikalismus des Bewahrens

Bakers Kritik am Eckenknick-Urteil über die Bücher zielt nicht lediglich auf die Objekt-Unangemessenheit des Verfahrens. Sie zielt vor allem auf den prognostischen Gehalt. Denn die Kernthese seines Buches ist, dass die gängigen Prognosen des unmittelbar bevorstehenden "Zerfalls" der Bücher deren Zustand dramatisieren, um ihre rasche Ausrangierung, riskante Entsäuerung oder völlige Ersetzung durch Mikrofilmversionen zu legitimieren.

So suggestiv die gelegentlich ins Klima der detective story führenden Geschichten aus der Restaurierungs- und Verfilmungswelt sind, die Baker erzählt, um seine These zu untermauern, die amerikanischen Bibliothekare und Archivare haben sich die Chance zur Antipolemik an diesem Punkt nicht entgehen lassen.

Erstens hat in der Welt der Bucherhaltung und -restaurierung längst ein Prozess stattgefunden, den man in Analogie zur modernen Medizin als Übergang von stark invasiven zu minimalinvasiven Diagnose- und Therapieverfahren beschreiben könnte.

Zweitens sind die Hemmungen stark angewachsen, (auch säurehaltige) Bestände nach der Mikroverfilmung auszumustern. Drittens ist Bakers trotziger Radikalismus des Bewahrens, der am liebsten jede Ausgabe jeder Zeitung auf unbegrenzte Zeit hin im Originalzustand in großen, klimatisierten Lagerhallen speichern würde, ein gefundenes Fressen für Bibliothekare und Archivare, die gewohnt sind, bei ihren Entscheidungen für den Erhalt oder Nicht-Erhalt von Beständen den Raumbedarf automatisch in Geldbedarf umzusetzen. Und viertens ist, trotz Nicholson Bakers Polemik gegen die Dramatisierung des Problems, das "saure Papier" kein Scheinproblem.

Dennoch sollten die Bibliothekare Nicholson Baker eher dankbar sein als ihn verdammen: Sein Temperament als Autor des Eigenrechts der Dinge macht ihn zum idealen, wunderbar eloquenten Chronisten unserer Übergangszeit, in der sich das Papier und seine analogen wie digitalen Verwandten und Rivalen unter den Speichermedien vorerst vermischen, statt einander abzulösen.

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