Buch-Rezension:Jeder Venushügel eine Kampfansage

Lesezeit: 3 min

Es gibt ihn wirklich, den Schwimmbaddichter: Ernst Augustin hat lange gebadet und dann ein Buch geschrieben: "Die Schule der Nackten".

JULIA ENCKE

Die Jungen am Sprungturm spielen jeden Tag das gleiche Spiel: Sobald einer der neuen Badegäste, noch angezogen und vom Eingang kommend, am Sprungbecken vorbei muss - springen sie. Das ist großes Theater, jedes mal. Irgendwen erwischt es immer. Von oben bis unten durchnässt begibt er sich dann in Richtung Liegewiese, und es fehlt noch, dass alle anderen applaudieren.

(Foto: SZ v. 12.08.2003)

Gleich hinter dem Sprungbecken sitzt Herr Pfaff, den es wirklich gibt und den schon nach zwei Besuchen jeder kennt. Er ist braun gebrannt, ein älterer Herr mit weißem Haar und schwarzer Badehose, und er ist der Schwimmbaddichter vom Prinzregentenbad. "Das Sehbad" heißt seine Broschüre, die er jedem gerne zu lesen gibt: eine Phänomenologie des Freibadbetriebs in kurzen Kapiteln - "Der Sprungturm", "Die Frauen", "Die Männer", "Die Bademeister", "Die Toiletten". Sehr lustig und unverklemmt.

Vielleicht hat es ihn immer schon gegeben, den Schwimmbaddichter, in allen Freibädern, überall. In diesem Sommer allerdings betritt er vehement die literarische Bühne: Am vergangenen Wochenende besuchte Hanns Zischler für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung das Berliner Olympiabad und Joseph von Westphalen das Ungererbad in München. In ihren ethnologischen Miniaturen vermischten sich Kinderschreie mit Chlorgeruch und Schulzeiterinnerungen, und am Ende seines Textes traf Joseph von Westphalen in Badehose auf einen Schwabinger Buchhändler, der ihm den neuen Schwimmbad-Roman schlechthin empfahl: "Die Schule der Nackten" von Ernst Augustin.

Das muss Schwimmbadliteratur für das Schwimmbad sein, denkt man sich. Die Frage ist nur, wie lange es einen auf der Liegewiese hält, wenn man "Schule der Nackten" dort liest. Denn Augustin schreibt nicht über ein gewöhnliches Schwimmbad, er schreibt über eine fiktive FKK-Anstalt, die mit allerlei Zumutungen verbunden ist: In praller Sonne sind Menschenkörper nicht gerade am schönsten, und die ganze erste Hälfte des Romans ist einer Studie ausgerechnet des männlichen Genitals gewidmet, unerbittlich.

München im schweren Sommer: "Zugang nur ohne Kleidung gestattet", steht am Eingang des Jacobi-Bads, und Augustins Mann von fünfzig Jahren tut sich das an wie eine Prüfung. Er hofft, endlich eine Freizone gefunden zu haben, in der man alles ablegen kann: alle Bindungen, alle erworbenen Eigenschaften, seinen Beruf, seinen Namen, seine Vergangenheit, das Armani-Hemd, die Hose von Bonard und das ganze Unterzeug. Die Prüfung jedoch erweist sich als schwer. Nirgendwo, so scheint es, ist es mühseliger, frei zu sein, als im Freibad - zumal in einem wie diesem, in dem man alles zeigen muss: "In Drohhaltung, gespreizt ausgebreitet und bis zum Anschlagaufgeklappt" liegen um ihn herum die Leiber. Überall lauern "Vorhäute wie Schießapparate" und "Venushügel wie Kampfansagen". Das macht nervös, vor allem dann, wenn Augustins Freigänger den Blicken ausgesetzt über den Rasen läuft, also panisch nach unten blickt, ob auch nichts herumschlenkert oder noch "etwas Schlimmeres" passiert.

Das tut einem Leid. Aber nach dreißig Seiten akribischer Organ-Typologie - darunter "das größte weibliche Genital, das jemals in einem öffentlichen Freibad gezeigt wurde" - reicht es dann auch. Augustins Anti-Held ist ein wenig wie der Chauffeur in Martin Walsers Roman "Seelenarbeit", der dreihundert Seiten lang über seine Verdauungsstörungen reflektiert und ein kompliziertes Verhältnis zu seinem Chef hat. Der Schwierige aus der "Schule der Nackten" betreibt nichts anderes: Seelen- und Körperarbeit - und schon Walsers Roman war anstrengend zu lesen. Was in "Seelenarbeit" das schwierige Verhältnis zum Chef war, ist bei Ernst Augustin die angespannte Beziehung zu Juliane, der Göttin des Jacobi-Bads, jung, bildschön, und - vor allem - freizügig. An ihr arbeitet sich der in die Jahre gekommene Erzähler ab: Sein Blick auf ihren Körper macht ihm den auf den seinen unerträglich. Doch will er sie haben, und er kriegt sie, die Sonnenanbeterin, verlässt mit ihr das Freibad, um sich die höhere Schule der Schamlosigkeit anzutun: einen gemeinsamen Tantra-Kurs auf dem Land. Im Zeichen von Brahma geht dann alles von vorne los, nur dass nun von der männlichen "Yati" die Rede ist.

Den ganzen letzten Sommer, heißt es, habe der Neurologe Ernst Augustin, der mit der "Schule der Nackten" seinen neunten Roman geschrieben hat, in Münchner Freibädern zugebracht. Hier suchte er Anregungen, führte im Wasser, an den Beckenrand gelehnt, Gespräche wie an einer Bar und studierte die Hierarchien der Freibad-Gesellschaft. Die nackten Tatsachen, die sein Held als zu nackt empfindet, erfand er offensichtlich dazu. Und darin scheint auch das Problem zu liegen.

"Die Schule der Nackten" will keine Literatur über das einfache Schwimmbad sein. Sie sucht das Extreme der FKK-Zone und die Ausschweifungen des Tantra-Sex. Damit führt sie den Leser so ausdrücklich ins Sperrgebiet, dass dieser das Schauspiel nur abstrus finden kann, sich weniger mit der eigenen als mit anderen Arten konfrontiert sieht. So hält man Distanz. Man lacht darüber, aber schaut nicht beklommen am eigenen Körper herunter, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Vielleicht hätte ein gewöhnliches Schwimmbad für einen Roman schon gereicht. Denn genau besehen ist das schon extrem genug, gerade in diesem Sommer.

ERNST AUGUSTIN: Die Schule der Nackten. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2003. 255 Seiten, 17,90 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: