Buch: "Die Leidensblume von Nattersheim":Als Jesus am Zaun vorüberlief

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Martina Kieninger beschreibt das Phänomen von Jesus-Erscheinungen.

Christoph Haas

Es ist ein Wunder. Vor 59 Jahren, als junge Frau, hat die Metzgertochter Emma Lochmüller ihre Berufung erhalten. Als sie im Garten mit der Wäsche beschäftigt war, ist auf einmal Jesus am Zaun vorübergegangen. Seitdem nimmt Emma gerne das Leid ihrer Mitmenschen auf sich, und so mancher wird in schneller, unerklärlicher Weise von seinen Gebrechen befreit. Immer wieder weiß sie zudem in detaillierten Bildern das Karfreitagsgeschehen zu schildern: "Der Herr begibt sich auf den Kreuzweg, und Emma sagt: No ganget mr halt. Das ist Hebräisch, meint der Pfarrer, aber der Bruder von Emma sagt, es sei nur Schwäbisch und bedeute: Dann gehen wir." Hängt der Herr schließlich am Kreuz, fließt Blut auch aus den Händen und Füßen seiner Prophetin.

Erscheint Jesus tatsächlich Menschen? Die Satire von Martina Kieninger nimmt es an. (Foto: Foto: AP)

Ist es wirklich ein Wunder? Der "Nattersheimer Freundeskreis der Leidensblume" hat mit Hilfe eines finanzstarken Mitgliedes bereits ein "Kloster der Spätberufenen" gegründet; der begeisterte Chefredakteur des Katholischen Sonntagsblattes gibt eine Artikelserie über Emma in Auftrag. Allein der Bischof hat seine Zweifel, die auch ein Besuch vor Ort nicht zu zerstreuen vermag. Im nahe gelegenen Ofterdingen allerdings wohnt ebenfalls ein Stigmatisierter: der Russe Tschitschitsch, ein talentierter Schachspieler, der vor einigen Jahren wegen seiner Wundmale aus dem atheistisch gesonnenen Heimatverband ausgeschlossen worden ist.

Als sein Sponsor tritt der Unternehmer Teilhard Büchele auf. Er beschäftigt sich gerade mit der Umwandlung seiner Kühlschrankfirma in ein sehr ungewöhnliches High-Tech-Unternehmen: In speziell konstruierten Tanks sollen die Köpfe Verstorbener konserviert und in ferner Zukunft auf neuen Körpern wieder zum Leben erweckt werden.

Diese Satire aus der schwäbischen Provinz besitzt durchaus einige witzige Details - etwa wenn Emma in einer Vision Hans Küng erblickt, der, umgeben von seinen Tübinger Jüngern, auf einer riesigen Kaugummipackung mit der Aufschrift "Weltethos" sitzt. Mit dem Versuch, gleich drei Exempel der hartnäckigen Liebe zum Irrationalen vorzuführen, hat sich Martina Kieninger in ihrem Debüt aber eindeutig übernommen.

Wenn ein Autor die Kontrolle über seinen Stoff verliert, kann ein Meisterwerk entstehen - vorausgesetzt, er gewinnt sie irgendwann wieder. Das vorliegende Buch erscheint dagegen eher als Ergebnis einer bloßen Wucherung; allzu willkürlich, zu wenig reflektiert ist der Umgang mit den Figuren und der Handlung.

Besonders zu bedauern ist dies bei Pater Dankward, dem intellektuellen Franziskaner, der vom Bischof den Auftrag erhält, die Vorfälle in Nattersheim zu untersuchen. Im weiteren Verlauf gerät er immer mehr aus dem Blick; sein plötzlicher Tod gleicht der verlegenen Antwort auf eine ungelöste erzählerische Frage. Dankwart ist alt. Das holländische Kloster, in dem er lebt, hat die Sekte des Maharishi Yogi übernommen; wo früher gebetet wurde, sollen nun bald Levitationsübungen stattfinden. Die paar Seiten, die diese Situation schildern, sind von einer großen Traurigkeit erfüllt. Die restlos säkularisierte Welt, in der Dankwart leben muss, wirkt nicht weniger heillos als der religiöse Wahn, dem Emma und ihre Anhänger huldigen.

MARTINA KIENINGER: Die Leidensblume von Nattersheim. Verlagsbuchhandlung Liebeskind München 2005 288 Seiten 18,90 Euro

© SZ vom 11.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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