Boris Groys:Neuer Himmel, neuer Mensch

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Der Kommunismus hat die Welt weitgehend globalisiert, das kommt jetzt an sein Ende: Ein Gespräch mit dem Philosophen Boris Groys zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution.

Interview von Sonja Zekri

Das Jahr, das die Welt veränderte, begann weit früher. Aber erst 1917 entlud sich die Wut über die Rückständigkeit des Zarenreiches, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der Rausch eines kulturellen Aufbruchs in einer Erschütterung, die die ganze Welt erfasste. Der russisch-deutsche Philosoph Boris Groys hat das Wechselspiel von Kultur und Revolution in der Sowjetunion seit Jahrzehnten beschrieben. Inzwischen lebt er in New York, aber über die Paradoxien des Jahres 1917 lässt sich auch am Telefon wunderbar philosophieren.

SZ: Was war 1917? Eine Zwangsläufigkei t? Eine Tragödie?

Boris Groys: Es war vieles gleichzeitig, aber vor allem ein Akt extremer Beschleunigung aller Prozesse der Modernisierung überall auf der Welt.

Die Russische Revolution hat den größten Teil des 20. Jahrhunderts geprägt. Wieso ist heute von ihrem Erbe so wenig übrig?

Der Kommunismus hat die Welt weitgehend globalisiert, er war eine weltumspannende Bewegung. Die Ideologie der Globalisierung, der Internationalisierung ist also quasi kommunistisch. Sie kommt erst jetzt an ihr Ende. Der Brexit und die Wahl von Donald Trump sind Zeichen dafür. Nach dem Ende der Sowjetunion haben wir einen extremen Nationalismus beobachtet, im Baltikum, in Polen, Ungarn, auch Jugoslawien. Jetzt kommt dieser Trend im Westen an. Der Westen reagierte früher mit dem globalisierten Antikommunismus, jetzt reagiert er mit verstärktem Nationalismus.

Das beschreibt die Dynamik der kommunistischen Globalisierung, aber nicht die Ideologie. Fidel Castro ist tot, die französischen Kommunisten wählen den rechtsextremen Front National. Kaum eine Kapitalismuskritik gipfelt in dem Ruf nach der klassen losen Gesellschaft. Warum zündet der ideologische Kern nicht mehr?

Der Kommunismus war der Versuch, mit säkularen Methoden das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. Aber die Menschen sind weniger christlich geworden, also weniger kommunistisch. Was ist die Moderne? Fortschreitende Säkularisierung und Ökonomisierung. Zuerst war das Christentum ein Ort des Widerstandes gegen die Ökonomisierung. Die Vorstellung, dass es eine andere Welt geben kann, sei es das Jenseits wie im Christentum, sei es das Diesseits wie im Kommunismus, ist nicht mehr da. Stattdessen macht man Selfies.

War 1917 ein Glücksfall für die Kunst?

Für die russische Avantgardekunst ganz sicher. Sie hat früher begonnen, vor dem Ersten Weltkrieg, sie war kein Effekt der Revolution, sondern eine Vorwegnahme der Konflikte des 20. Jahrhunderts. Aber plötzlich hat die revolutionäre Macht diese Kunst unterstützt, nicht, weil sie sie mochte, sondern weil beide eine Allianz eingingen. Überall in Europa war die Avantgarde in den Zwanzigerjahren nur noch eine Sache kleiner Milieus. In Russland aber war sie eine kulturelle Macht.

Was verdankt, umgekehrt, der Bolschewismus der Kunst? Dichter wie Wladimir Majakowski oder der Regisseur Wsewolod Meyerhold flankierten die Auslöschung des Alten, auch der Intelligenzija, mit ihren Werken.

Stalins Rivale Leo Trotzki hat gesagt, dass die russische Avantgarde die Revolution als Schaffung des neuen Menschen gedacht hat. Die politischen Revolutionäre verstanden die revolutionäre Tätigkeit dagegen als älteste Tätigkeit des Menschen. Die Menschen haben immer Umstürze gemacht, diese historische Tradition kann unterbrochen werden, wird aber immer wieder aufgenommen. Nach 1917 zelebrierten Literatur und Kunst der Avantgarde das radikal Neue des Kommunismus: Das ist die neue Erde, das ist der neue Himmel, das ist der neue Mensch, alle sind gerettet, Gott ist Geschichte, das Leben triumphiert, dieses Gefühl des absoluten Neuanfangs im kosmischen Sinne.

Einige Künstler blieben an der Seite der Bolschewiken, als die Revolution in Repression umschlug. War der stalinistische Terror auch eine Folge dieser Symbiose?

Die Ursache für den Stalinismus und den Terror ist die politische und historische Schließung Mitte der Dreißigerjahre. Damals wurde allen klar, dass der Kommunismus sich international nicht durchsetzt und dass die Sowjetunion allein mit ihrem Kommunismus bleibt, politisch und militärisch isoliert. Wenn sich der Eindruck einstellt, dass es nicht weitergeht, beginnt man, die Reinheit der Lehre, die utopische Lebensweise zu verteidigen - und zwar oft genug mit Mitteln der Repression.

Wollen nicht alle revolutionären Ideologien Weltgeltung?

Es gibt Ideologien, die regional sein können, andere sind ihrer Natur nach international: das Christentum, der Islam, der Kommunismus, Liberalismus und Menschenrechte. Welttragende Ideen bleiben entweder welttragend, oder man muss sie aufgeben. Der Glaube an die Menschenrechte ist der Glaube an eine Macht, die diese Idee durchsetzt. Wenn ich einräume, dass sich die Menschenrechte nicht überall durchsetzen lassen, dann gebe ich auf. Dann sage ich: Ich regele meine eigenen Probleme und nicht die der anderen. Das passiert gerade in Amerika.

Der postsowjetische Nationalismus in Russland hat es da leichter?

Der Nationalismus hat den Vorteil, dass er in seinem Fortbestehen nicht vom Welterfolg abhängt und deshalb nicht kritisierbar ist. Schon in der Spätphase der Sowjetunion hieß es dort, der Kommunismus ist gescheitert, weil nur wir kommunistisch sind, nicht die ganze Welt. Ein Nationalist kann nicht enttäuscht werden, weil er die Weltherrschaft nie erwartet hat, ein Kommunist schon.

Alexander Sinowjew hat mit seiner gleichnamigen Satire den Begriff des "Homo sovieticus" geprägt. Die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch beschreibt damit einen opferbereiten, verführbaren Menschentypus, der Freiheit als Irritation begreift. Stimmen Sie zu?

Das ist eine Verblendung, ein Streben nach Selbst-Exotisierung. Wir sind nicht wie alle anderen, obwohl vielleicht schlimmer ...

Es gab also gar keinen neuen Menschen?

Am Anfang. Aber schon in den Sechziger-, Siebziger-, Achtzigerjahren war die Sowjetunion eine kleinbürgerliche Gesellschaft, mit Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnungen als gesellschaftlichem Ideal und einem entwickelten Schwarzmarkt, sehr individualistisch, ohne jede Ideologie.

Die Pointe Ihres Buches "Das kommunistische Postskriptum" lautet, dass das Ende der Sowjetunion gar keine Niederlage war, sondern die Vollendung einer paradoxen Idee. Die Machthaber selbst haben das Privateigentum wieder zugelassen - und die Sowjetunion abgeschafft.

Ja, das war so. Die Dekonstruktion des Projektes Sowjetunion ging von der Parteiführung aus. Zunächst einmal wurde der Kommunismus in Osteuropa abgeschafft, inklusive Ost-Deutschland, dann in einzelnen Sowjetrepubliken, dann trat Russland aus der Sowjetunion aus. Das war ein zentralistisch gelenktes Projekt.

Aber der letzte Sowjetführer Michail Gorbatschow wollte doch nie im Leben die Auflösung der Sowjetunion?

Er wollte aus der Sowjetunion ein kapitalistisches Land machen. Aber aus der Sowjetunion ein kapitalistisches Land zu machen und die Sowjetunion zu behalten, war schwierig. Das haben die Russen sehr schnell verstanden. Russland ist aus der Sowjetunion ausgetreten, weil es ganz klar war, dass das Land nur dann richtig kapitalistisch wird, wenn der Nationalismus als Ersatzideologie vorgeschlagen wird. Und so etwas wie den sowjetischen Nationalismus gab es ja nicht.

Der französische Philosoph Jacques Derrida schrieb 1993, Marx' Gespenster seien nicht verschwunden. Hat er recht?

Klar, Marx' Gespenster sind nicht tot. Was ist die kapitalistische Gesellschaft? Jeder glaubt, dass er besser ist als die anderen und gewinnen kann. Dass die Konkurrenz gut ist, weil man gewinnen kann. Ich hatte viele Freunde in anderen Sowjetrepubliken, alle glühende Nationalisten. Die haben mir damals erklärt, dass beispielsweise Georgien besser leben wird als Frankreich, weil es ein besseres Klima hat, wenn die Russen weggehen, dann wird Georgien florieren. Die Russen haben geglaubt, wenn sie nicht mehr für die anderen Sowjetrepubliken bezahlen, dann würde Russland florieren.

Viele Russen und Ukrainer, sogar Tschetschenen, die sonst an der Sowjetunion kein gutes Haar lassen, sagen, es habe in der Sowjetunion gar keinen Nationalismus gegeben, das war das einzig Gute.

Das ist eine Lüge. Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit, der Nationalismus war von Estland bis Georgien über die Ukraine überall extrem. Alle dachten, sie würden alleine besser zurechtkommen.

Klingt vertraut.

Ja. Dieser extreme Individualismus, die Hoffnung, sich völlig von der übrigen Gesellschaft zu isolieren, um es allein zu schaffen, das ist die Utopie unserer Zeit. Das Ziel ist sozusagen, in einer Garage in Silicon Valley etwas zu erfinden, was alle kaufen, ein virales Video zu drehen, das alle sehen. Aber dieser Glaube funktioniert nur so lange, bis die Kluft zwischen Reich und Arm viel größer wird, sodass der Einzelne die Hoffnung verliert, sie zu überwinden. Wir sind noch nicht so weit, aber so weit wird es kommen. Und dann werden Marx' Gespenster zurückkommen.

Auf Russland kommt ein schwieriges Gedenkjahr zu. Die ermordete Zarenfamilie ist heilig gesprochen worden, aber nach ihrem Mörder wurde eine Metro-Station in Moskau benannt. Präsident Wladimir Putin hasst Revolutionen, aber der letzte Zar Nikolaus II. galt als schwach, Stalin hingegen als stark. Was erwarten Sie in diesem Jahr?

Nicht nur Putin, nicht nur die herrschende Klasse, sondern die ganze Gesellschaft mag die Idee der Revolution nicht. Ich glaube, diese Geschichte wird in eine leise Anklage der Revolution münden.

Wie wird das Gedenkjahr in das Monumentalnarrativ eines dank starker Herrscher von Jahrhundert zu Jahrhundert mächtigeren Russlands eingebaut?

Eigentlich existiert die Oktoberrevolution für die offizielle Geschichtsschreibung nicht. Sie wird als untergeordneter Moment in einem Prozess beschrieben, der 1914 begann und 1922 beendet wurde. Im Verlauf dieses Prozesses ist vieles passiert. Der Sturz des Zaren im Februar 1917, die Machtübernahme der Bolschewiken im Oktober, der Bürgerkrieg und dies und jenes. Die Schulbücher wurden auch in diesem Sine umgeschrieben. Die Oktoberrevolution wird nicht als etwas Herausragendes und Wichtiges gesehen, eher als ein Unfall und ein Anlass zu Trauer.

Was würden die sowjetischen Führer wohl sagen, wenn sie Russland heute sehen könnten?

Sie würden sagen: Ungefähr so haben wir es erwartet.

Sie haben ihrer eigenen Idee nicht vertraut?

Wenn man Lenin oder Trotzki oder den 1938 hingerichteten Vordenker Nikolai Bucharin liest, dann merkt man, dass sie zunächst einmal stolz sind, dass es länger gedauert hat als die Pariser Kommune. Dann sind sie stolz, dass es länger gedauert hat als die Französische Revolution. Sie waren alle geschult in marxistischer Dialektik. Die Vorstellung, dass jede Revolution mit einer Restauration endet, war tief verankert. Dass ihre so lange durchhält, hätten sie nie gedacht.

© SZ vom 07.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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