Besuchermagnet Documenta:Von Kassel nach Bulgarien

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Eine Weltkunstschau wie ein Trödelladen: Die von Kritikern als "schlechteste Ausstellung aller Zeiten" bezeichnete Documenta lockt mehr Besucher an als in den Vorjahren - vor allem aufgrund ihrer zielgerichteten Vermarktung.

Holger Liebs

Schon die Vorschusslorbeeren waren üppig. Einige Kritiker wussten bereits geraume Zeit vor der Eröffnung der 12. Documenta, welche Langzeiterfolge sie erzielen würde. "Ein historischer Wendepunkt. Sie wird die Kunstwelt verändern. Eine Ausstellungsrevolution, Beginn 16. Juni", jubelte die Zeit, und in der FAZ war von einem "Neuanfang" die Rede: "Eine Entdeckungsreise. Ein Bildungserlebnis. Ein Kunstereignis".

Dann kam die Eröffnung - und mit ihr der Katzenjammer. Eine "Katastrophe" ("New York Times2). Die "schlechteste Ausstellung aller Zeiten" ("Daily Mirror"). Im "Guardian" schäumte Adrian Searle, der Aue-Pavillon sehe aus wie ein "bulgarischer Handelsmarkt": "eher lieblos und elend als luftig oder dynamisch".

Ja, was denn nun? Zur Halbzeit der 100-Tage-Weltkunstschau haben sich dort bereits erstaunliche 330000 Menschen eingefunden - Rekord, melden die Verantwortlichen. Erstmals könnte die 700000-Zuschauer-Marke erreicht werden.

Dieser Erfolg verdankt sich wohl allein Roger Buergel. Er hatte es vorab verstanden, durch verführerisch schillernde Schlüsselwörter wie "ästhetische Bildung", "Zauberwald" oder "Palmenhain", durch denkbar griffige Fragestellungen wie "Was tun?" oder "Ist die Moderne unsere Antike?" ein dezidiert bürgerliches Publikum anzusprechen, welches nun in Scharen anreist. Was ja durchaus erfreulich ist - aber noch nichts über die Ausstellung selbst aussagt. Viele Fachleute neigen inzwischen eher dem Bild des bulgarischen Trödelladens zu.

Buergels Versuch, in Kassel eine neue Kunstöffentlichkeit auszurufen, ist jedenfalls auf offene Ohren gestoßen. Gleichzeitig wollte er aber dem gegenwärtigen Kunstbetriebs-Hype eine Absage erteilen - damit aber auch implizit dem neuen Konsens, dass Kunst ein "must-see" sei, eine neue Leitwährung der Kultur. Der Erfolg der Gegenwartskunst ist nun einmal, wie man es auch dreht und wendet, ihrer historisch gewachsenen Allzuständigkeit in verschiedensten Kulturbereichen geschuldet - mit der Frage, wie teuer sie verkauft wird, hat dies erst einmal nichts zu tun. Eher schon mit ihrer Offenheit und Experimentierfreudigkeit, die Kulturkritiker so gerne als Beliebigkeit brandmarken.

Gewolltes Scheitern

Doch Buergel ging es um etwas anderes: um eine neue Verbindlichkeit der Kunst, um ihre Verpflichtung auf ein demokratisches Ideal. Jedenfalls hat er allen Ernstes versucht, die strömenden Massen glauben zu machen, sie könnten sich nach erfolgtem Kunstgenuss in besagten "Palmenhainen" - also eigentlich Gruppen herumstehender Stühle - zu kleinen, kunstsinnigen Zirkeln zusammenschließen, um über die Kultur unserer Gesellschaft zu räsonnieren. So wollte er in dieser Massenveranstaltung den Schein von Individualität wahren. Das Verblüffende ist: Er kam damit durch.

Grund dafür ist die Autoimmunisierungs-Strategie der Documenta. So hat Buergel schon früh bekundet, wenn sie am Ende scheitere, dann sei das sogar gewollt: Schließlich solle sie polarisierend, nicht harmonisierend wirken. Den sturmbedingten Einsturz von Ai Wei Weis "Template"-Skulptur sowie diverse Desaster botanischer Kunstbemühungen verkaufte er ebenfalls als "produktives Scheitern". Dass das alles nicht nur nicht mit dem angestrebten Ideal einer harmonischen Kunstöffentlichkeit zusammenpasst, sondern auch überheblich klingt - wen schert's? Es funktioniert ja.

Nun ist es, auch angesichts der himmelweit auseinanderklaffenden Urteile der Kritiker, eine gute Tradition der Documenta, dass sie erst im historischen Rückblick ihre endgültige Wertung erfährt - wie Harald Szeemanns legendäre Schau von 1972 oder Catherine Davids Documenta von 1997. Letztere gilt mittlerweile als bahnbrechender Versuch, die Gegenwartskunst vom Spektakel abzukoppeln und theoretisch zu fixieren.

Etwas Ähnliches wollte Buergel erreichen - durch sein kuratorisches Konzept, dem Nomadisieren künstlerischer Formen durch die Kontinente und Jahrhunderte nachzuspüren. Doch das Ergebnis solchen Aufklärungs-Bemühens - so viel lässt sich jetzt schon sagen - wirkt vor Ort mal spießig verkrampft, mal schlicht esoterisch und an anderer Stelle, etwa in der Saunakammer des Aue-Pavillons, labyrinthisch verschachtelt.

Auch wenn die abgedunkelte Galerie in Schloss Wilhelmshöhe zwischen Kalligrafien und Videokunst überzeugt, auch wenn Einzelwerke, etwa von James Coleman, Olga Neuwirth oder Amar Kanwar, strahlen: Ihre Auswahl hat, im Fadenkreuz der Ausstellungsthesen, kaum je etwas Zwingendes. So manches Kunstwerk muss sich gegen unliebsame, aufgezwungene Konkurrenz behaupten.

Den Kuratoren wird solche Kritik jedoch kaum weh tun. Sie sind dagegen immun - und können lässig auf die Rekordzahlen verweisen. Doch sagen diese nichts über die Urteile des Publikums aus. Ob es sich wohl plötzlich irgendwie demokratischer fühlt? Wir sind gespannt.

© SZ v. 2.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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