Berlinale-Wettbewerb: Abu-Ghraib-Dokumentation:Hingerichtet durch Scham

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Wahrheit auf dem Seziertisch: Der Film "Standard Operating Procedure" rekonstruiert die Entstehung der Folter-Bilder, die amerikanische Soldaten von irakischen Gefangenen machten.

Anke Sterneborg

Natürlich geht es nicht um die Aufdeckung eines politischen Skandals, und im Grunde gehört Errol Morris' "Standard Operating Procedure" nicht einmal zu den vielen Filmen, die derzeit den politischen Unmut der Amerikaner in die Welt hinausschleudern. Wie zuvor der Fall eines Mörders in "The Thin Blue Line" oder die konkrete Biografie des Physikers Stephen Hawking in "A Brief History of Time", ist nun auch die Geschichte der Folterer von Abu Ghraib nur ein Anlass für den berühmten Dokumentarfilmer, um über die Menschheit im Ganzen nachzudenken.

Szene aus "Standard Operating Procedure": Gefangene in Abu Ghraib. (Foto: Foto: Berlinale)

Seit rund zwanzig Jahren dreht er ebenso kunstvolle wie aufrührerische Filme, die auffällig häufig um den Tod kreisen, doch im Grunde ist er immer der Philosoph seiner Anfänge geblieben: "In meinen Filmen gehe ich meiner Verwunderung darüber auf den Grund, was die Menschen sind, und warum sie tun, was sie tun", sagt er. "Mich eingeschlossen".

Sicher, der Mann ist wütend auf seine Landsleute, auf ihre Rolle in der Weltpolitik der letzten zehn bis fünfzig Jahre, doch seine Wut ist eher reflexiv als aggressiv. Man spürt den hemdsärmeligen Mann der Tat, mit den kurzen, ergrauten Haaren, aber man spürt auch die Nachdenklichkeit eines Menschen, der dem ersten Blick auf ein Photo nicht traut, der im Geiste von Susan Sontag fragt, was darauf wirklich zu sehen ist.

Morris untersucht die scheinbar so offensichtlichen Bilder, die um die Welt gingen, die amerikanischen Soldaten im Herbst 2003 von sich und ihren irakischen Gefangenen gemacht haben: "Photos lügen nicht", sagt er schlicht. "Es sind die Menschen, die lügen, sie interpretieren und verfälschen das Sichtbare. Man sieht diese Photos und denkt, da sei alles drin, was man über Abu Ghraib wissen muss. Doch das ist ein Irrtum. Was man da sieht, ist nur scheinbar so offensichtlich."

Wegen uns ist keiner gestorben

Das Grauen dieses Filmes liegt im Detail, im triumphierend erhobenen Daumen einer Frau, die neben der Leiche eines zu Tode gefolterten Mannes posiert, und in den Sätzen der Täter. "Man kann sich alles erlauben, solange man es nicht auf einem Photo verewigt", sagen sie, oder: "Wir haben doch nichts gemacht. Wegen uns ist niemand gestorben".

Das lässt außer acht, dass man auch vor Scham sterben kann - und welche Demütigung es für einen arabischen Mann bedeutet, von einer weißen Frau mit nacktem Oberkörper und einem Frauenslip über dem Kopf an ein Bettgestell gekettet zu werden, vor seinen Peinigern masturbieren zu müssen, mit Leidensgenossen zu Fleischpyramiden aufgetürmt zu werden. Alles nur dazu da, die Gefangenen für das Verhör weich zu machen, heißt es, alles nur "Standard Operating Procedure".

Die perfide Unmenschlichkeit dieser Szenen lässt einem immer wieder den Atem stocken, doch um einfache Verurteilung geht es Morris nicht: Diese Photos stellen die Soldaten bloß - und verschleiern zugleich die Schuld des Systems, für das es bequem und entlastend war, sie zu Sündenböcken abzustempeln. Und es geht auch darum, wie die Täter ihre Aufnahmen zunehmend für ihre Pocketkameras arrangiert haben: "Das sind lebende Bilder, die man mit ,Cindy Sherman goes to hell' beschreiben kann".

So wirft der Film alle möglichen ethischen Probleme auf - auch das seiner eigenen Entstehung. "Ich werde immer wieder gefragt", sagt Morris, "ob es moralisch vertretbar sei, die Gesichter der Gefangenen nicht unkenntlich zu machen. Aber mir war es wichtig, diese Gefangenen nicht einfach nur als nackte, gesichtslose Menschen mit einer Kapuze zu zeigen. Ganz egal, ob sie unschuldig oder schuldig sind!"

Hochstilisierte Ästhetik

Kein einziger relevanter Hinweis sei jemals aus diesem Gefängnis gekommen, sagt einmal die sehr wütende Frau, die es lange Zeit geleitet hat. Wie in Antonionis "Blow up" geht es auch in diesem Film um das Spannungsverhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit. Lange habe er "Blow up" als postmodernen Film betrachtet, sagt Morris - als Beweis, dass es keine objektive Wahrheit gäbe, dass alles nur Interpretation sei. "Aber heute sehe ich das ganz anders: Die Leiche liegt tatsächlich im Park, sie ist nicht eingebildet. Es gibt die absolute Wahrheit, und zwar auch dann, wenn die Menschen sie nicht anerkennen. Insofern ist "Blow up" ein Film über die Existenz der Wahrheit - und über unsere Sehnsucht, ihren unbequemen Botschaften aus dem Weg zu gehen."

Seit "The Thin Blue Line" hat Errol Morris die Strategien weiterentwickelt und verfeinert, mit denen er die Wahrheit unausweichlich macht, in Zeitlupe und hyperrealistischen Großaufnahmen - und mit einer eigens von ihm entwickelten Kamera. Diese hochstilisierte Ästhetik hat ihm immer wieder Kritik eingehandelt, von Leuten, die dokumentarische Bilder gern roh, unstet, verwackelt und körnig hätten.

Dazu zitiert Morris Gabriel García Márquez, der beim Lesen von Kafkas Verwandlung einmal verwundert meinte: "Ich wusste gar nicht, dass man das tun darf" - als habe Kafka ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen, das festlegt, wie eine Kurzgeschichte konstruiert werden muss, das es verbietet, seinen Helden im ersten Satz in einen Käfer zu verwandeln. "Den Menschen ist es viel lieber, nicht darüber nachzudenken, was da draußen passiert - und wenn die Realität auf vorhersehbare Weise präsentiert wird, muss man nicht darüber nachdenken".

Auf die abschließende Frage, ob es noch Hoffnung für die Menschheit gebe, zitiert Morris dann Kafka selbst, dem dieselbe Frage eines Tages von seinem Freund Max Brod gestellt wurde. "Aber ja, natürlich", soll Kafka erwidert haben. "Nur nicht für uns."

© SZ vom 13.2.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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