Berlinale 2006:Der deutsche Frühling

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Zwischen Politik und Emotionen - eine Bilanz der Filmfestspiele.

Selten hat sich ein Filmfest mit solcher Geschwindigkeit von einer Glamourveranstaltung zum Arbeitsfestival gewandelt wie diese Berlinale. Am ersten Wochenende geriet man schier außer Atem vor Begeisterung, als George Clooney den ganzen Freitag die Stadt in seinen magischen Bann zog, und einen Tag später war dann Oskar Roehler mit seiner Star-Truppe dran, der seine vielgerühmte Houellebecq-Verfilmung der "Elementarteilchen" präsentierte - mit Gedeck, Bleibtreu, Potente, Ulmen, Hoss . . . Am Sonntag war die Laune bestens, als man in Robert Altmans "A Prairie Home Companion" erleben durfte, wie unverschämt spaßig die Arbeit bei amerikanischen Radioshows gewesen sein muss.

Man hatte zu diesem Zeitpunkt das finstere Menetekel fast wieder vergessen, das Dieter Kosslick in Dutzenden von Verlautbarungen und Interviews für seine fünfte Berlinale ausgegeben hatte: dass es politisch werden würde und grausam und so unangenehm, wie die Weltlage heute nun mal sei. Und es wurde, als die Woche anbrach, wie er es prophezeit hatte, politisch, unangenehm, grausam. Am unangenehmsten war, dass über dem durchaus ehrenwerten politischen Einsatz vieler Filme das Filmische in den Hintergrund geriet. Angenehme Ausnahmen davon waren "The Road to Guantanamo" - ob das Absicht war, dass der Titel dieser bitteren Anti-Bush-Story ausgerechnet an die boshaften "Road to . . ."-Filme mit Bob Hope und Bing Crosby erinnerte? - und "Geheime Staatsaffären", in dem Claude Chabrol den französischen Elf-Skandal in eine politische Komödie umfunktionierte.

"The Road to Guantanamo" von Michael Winterbottom und Matt Whitecross, der im dokumentarischen Teil dieses Zwitterfilms Interviews führte mit den Tipton Three, den drei zu Unrecht im Camp in Guantanamo gefangengehaltenen britischen Muslimen, hat den Silbernen Bären für die Regie bekommen - dass neue Folterfotos auftauchten, während das Festival lief, zeigt schon, wie nah dieser Wettbewerb dran war an der Tagespolitik, sich nicht nur auf politische Grundsätze konzentrierte, sondern sich konkrete Ereignisse, Strömungen, Probleme vornahm.

Jury betonte mit Entscheidungen politischen Schwerpunkt

George Clooney war der Star des ersten Wochenendes, der alle anderen in den Schatten stellte, obwohl das Nahost-Öl-Drama "Syriana", mit dem er vertreten war, außer Konkurrenz lief. Warum jedes Festival ihn will, das hat er auch da mal wieder bewiesen. Keiner sonst bekommt eine solche Gratwanderung hin zwischen Glamour, Gutmenschentum und cineastischer Ernsthaftigkeit. Er hat sich auf New Hollywood bezogen, als er den Film in Berlin vorstellte, auf jene Filme von vor dreißig Jahren, die schon damals versuchten, irgendwie dem aktuellen Geschehen beizukommen - "Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, Hippies" -, und die Motivation für dieses politische Kino hat er gut erklärt: "Solange ich die Chance habe, Fragen zu stellen, nachbohren zu können, will ich das auch tun." Versehen mit dem schönen Nachsatz, er werde die Hoffnung, die er eigentlich nicht hat, nicht aufgeben.

In den Filmen ist jedenfalls nicht jene Verwechslung von Kino und Realität spürbar, die bei den Preis-Zeremonien sich breit machte: Milo Radulovich, das McCarthy-Opfer, um das es in "Good Night, and Good Luck" geht, nahm Clooneys Cinema-for-Peace-Preis entgegen; während bei der Abschlussgala Michael Winterbottom und Matt Whitecross ihren Regiebären an die Tipton Three weitergaben, um die es in "Guantanamo" geht. So schön emotional solche Augenblicke auch sind: Die Preise werden nicht dafür vergeben, dass jemand Unrecht erlitt, sondern für die intellektuelle Auseinandersetzung mit diesem Unrecht.

Den politischen Schwerpunkt dieser Berlinale hat die Jury mit ihren Entscheidungen noch einmal betont. Der Goldene Bär ging an die Bosnierin Jasmila Zbanic - ein echter Außenseitersieg, denn "Grbavica", ein Film über eine im Balkankrieg vergewaltigte Frau, ist ihr erster abendfüllender Spielfilm. Jafar Panahi, mit einem Silbernen Bären prämiert, erzählt in "Offside" von der Unterdrückung der Frau im Iran im Gewand einer Fußballfankomödie. Nachdem ein zweiter Silberner Bär an die Dänin Pernille Fischer Christensen für ihre Transsexuellen-Story "En Soap" ging, kann man der Jury-Präsidentin Charlotte Rampling schon attestieren, dass sie für einen ziemlichen Frauen-Auftrieb gesorgt hat bei der Preisvergabe. Es waren aber auch ungewöhnlich viele Frauen angetreten - und am wichtigsten war oft die Arbeit, die sie hinter den Kulissen erledigten.

Rekordbeteiligung des deutschen Films

Barbara Albert etwa, die bereits selbst mit einigen Filmen für Aufsehen gesorgt hatte, zog im Hintergrund die Fäden als Co-Autorin von Michael Glawoggers Wettbewerbsbeitrag "Slumming" und als Produzentin des Siegerfilms "Grbavica" - sie versorgte die Filmemacher dort mit der nötigen technischen Grundausstattung. Man hat übrigens bei all diesen Frauen den Eindruck, dass sie nicht nur zum Spaß Filme machen - inklusive der für Hans-Christian Schmids Exorzismus-Drama "Requiem" als beste Schauspielerin ausgezeichneten Sandra Hüller, die ihren Preis mit tougher Bodenständigkeit entgegennahm.

Der deutsche Film, mit einer Rekordbeteiligung von vier Beiträgen im Wettbewerb fast unanständig stark gefördert, kam am Ende erwartungsgemäß gut weg. Ein wenig befremdlich allenfalls, dass ausgerechnet die Schauspieler es sind, die in diesem Jahr seine Stärke ausmachen, und bei den Männern ausgerechnet zwei "Wichser"-Figuren: Moritz Bleibtreu, der in "Elementarteilchen" als frustrierter Lehrer auf den Aufsatz einer angehimmelten Schülerin abspritzt, und Jürgen Vogel, der in "Der freie Wille" als Vergewaltiger beim Resozialisierungsversuch immer wieder sich frei onaniert. Mit dem Bären für Vogel als Akteur, Drehbuchschreiber und Produzent soll womöglich eine besondere Kraftpaketleistung gewürdigt werden, das brisante Thema, um das es gehen soll - Triebtätermentalität - verschwindet hinter der Aufdringlichkeit, mit der die Akteure sich daran abarbeiten.

Einen "Deutschen Frühling" beschworen die Cahiers du Cinéma in ihrer Februar-Nummer, als sie ihre Leser auf die Berlinale einstimmten. Neben Hans-Christian Schmid und Valeska Grisebach ging es dabei um die neuen Filme von Thomas Arslan, "Aus der Ferne", Ulrich Köhler, "Montag kommen die Fenster", und Henner Winckler, "Lucy". Alle drei Filmemacher zählen zur Kerntruppe der sogenannten neuen Berliner Schule, alle drei Filme liefen im Internationalen Forum des Jungen Films.

Valeska Grisebach ist dann am Ende dieser Berlinale von den vier deutschen Wettbewerbern die einzige gewesen, die keinen Preis bekommen hat - vielleicht war das einfach nicht der Ort, an dem eine Geschichte von der Liebe, den Emotionen eines einzigen Mannes, gewürdigt wird - und mag sie noch so stringent und perfekt leise erzählt sein. Einer der großartigsten Momente in diesem Film ist jene Szene, in der der Hauptdarsteller Andreas Müller allein vor sich hintanzt, völlig selbstvergessen, zu Robbie Williams' "Feel": "Come and hold my hand/ I wanna contact the living/ Not sure I understand/ This role I've been given . . ." Ein Augenblick, in dem das Kino ganz bei Sinnen ist - es gibt ihn tatsächlich, diesen deutschen Frühling, ein Kino, durch dessen Venen viel, sehr viel Leben fließt.

© SZ vom 20.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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