"Berlin für Arme":Arm, aber nicht sexy

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Dies ist kein Buch für wirklich Arme, sondern für Gesinnungsschwaben: "Berlin für Arme" weist den Weg durch Journalisten-Rabatte und robuste Plastik-Tüten in der Hauptstadt der Schnorrer.

Christian Welzbacher

Man sieht in Berlin auf jeder Vernissage einen kurzen, dicken Mann mit ausrasiertem Stiernacken und Glubschaugen, der umherstehende Gäste beiseiteboxt, um mit erprobter Systematik ans Buffet zu gelangen. Dort angekommen, stopft er sich die Taschen seines ausgebeulten Jacketts voll, schaufelt gleichzeitig Happen in den Mund, trinkt Bier und Wein, so viel es nur geht. Wenn er fertig ist und befriedigt, postiert er sich in einer Ecke des Raumes und blickt grimmig drein. Manchmal spricht er auch mit einem zweiten Mann.

Unsere Hauptstadt: arm, aber nach Empfinden des regierenden Bürgermeisters durchaus sexy. Viele ihrer Bewohner haben andere Sorgen. (Foto: Foto: ddp)

Der ist grauhaarig und verhuscht, trägt einen Parka und eine Plastiktüte und erscheint auf derartigen Veranstaltungen eher unregelmäßig. Da stehen sie dann, abseits der Menge, wechseln ein paar Worte, erregt der kleine Dicke, beschwichtigend der schüchterne andere. Sie stehen und warten. Auf den Beginn der nächsten Vernissage, an einem anderen Ort in der Hauptstadt, wo sich das Spiel wiederholt.

Jeder Besucher der Berliner Kunstszene kennt diese Gestalten. Sie sind so etwas wie "Eva und Adele" aus der Gosse, im Anspruch auf Selbstverwirklichung das ganze Gegenteil der künstlichen Glamourgirls: unprätentiös, gnadenlos, brutal. Sie haben sich nicht mühevoll verwandelt, sie sind einfach nur sie selbst. Das ist nicht nur ehrlich, sondern auch viel billiger.

Blättert man in dem neuen Buch "Berlin für Arme", so könnte man zunächst annehmen, die beiden dubiosen Herren hätten damit etwas zu tun. Beim näheren Lesen aber fällt bald auf, dass das gar nicht sein kann. Denn wer arm ist und was auf sich hält, braucht keine Legitimationsstrategie. Der schmale rote Band ist für wahre Lebenskünstler außerdem viel zu skrupulös und politisch korrekt.

Schon die Einleitung beschreibt die "Armut als Weg": zur Selbsterkenntnis, zum Wesentlichen des Lebens. "Reichtum bedeutet Schlaffheit, Überdruss und Langeweile; Armut die Anregung sämtlicher zur Selbstbehauptung notwendiger Lebensgeister." Wer soll das glauben?

Wo es wann was umsonst gibt

Richtig ist sicher, dass Armut, vor allem, wenn sie plötzlich über einen Menschen kommt, die Wahrnehmung der Umwelt verändert. Wir nähern uns Mülltonnen, um etwas wegzuwerfen. Dieses Verhältnis kann sich unter bestimmten Umständen wandeln. Dann wird der Kehricht des Einen zum Mittagsmahl des Nächsten. In ihrem Cicerone durch das reiche Armenhaus der Hauptstadt plädieren die Autoren indes dafür, das vermeintliche Scheitern als Chance zu erkennen. Es gelte, stilvoll zu verarmen. Ein Hauch von Schlingensief, eine Prise von Schönburg, einen Schuss digitale Bohème. Das Ganze garniert mit ein paar schlauen Tipps, wo es wann was umsonst gibt, vom Essen über die Kleidung bis hin zum Kulturerlebnis.

Das ist "Berlin für Arme". Mehr nicht. Bei der Lektüre des süffisant geschriebenen Texts fühlt man sich unweigerlich an die Erzählhaltung der neunziger Jahre erinnert. Es schwelt ein leicht blasierter Unterton, der jeden Sachverhalt, jede Beobachtung ins Reich der Ironie zerrt. Dennoch gibt es einige schöne Sätze, die das Zeug zum Aphorismus haben.

Zwei Kostproben: "Man kann sich durch Überschwemmungen ruinieren, falls man nicht versichert ist, oder durch Versicherungen, wenn die Überschwemmungen ausbleiben." Wunderbar! Oder: "Der Genuss warmer Speisen setzt ihre Zubereitung voraus." Das gilt wohl auch für kalte Speisen, nimmt der Formulierung aber keineswegs die Schlagkraft.

Für wirklich arme Menschen ist "Berlin für Arme" jedoch keine relevante Neuerscheinung. Jenen Dauerbiertrinkern, die sich darauf verlegt haben, Straßenecken in so genannte soziale Brennpunkte zu verwandeln, dürfte der lakonische Witz des Textes sehr egal sein. Er entspricht einfach nicht ihrem Lebenskonzept. Das Buch ist viel eher eine Gebrauchsanweisung für Gesinnungsschwaben. Und solche haben sich schon immer reichlich in der billigen Kapitale eingefunden und wohlgefühlt, vor allem in jenen wundersamen Jahren, da Berlin geteilt und seine Westhälfte von der Hauptstadt noch weit entfernt war.

Das Leben im Dauer-Probe-Abo

Korrekterweise müsste der Band also "Berlin für Schnorrer" heißen. Diese Titelkorrektur sollte bei einer Neuauflage genau so berücksichtigt werden wie einige essentielle Ergänzungen. Die robustesten Plastiktüten von Berlin gibt es nicht bei der Supermarktkette "Reichelt", sondern selbstverständlich in der Staatsbibliothek. Der Journalistenausweis wird erst auf Seite 54 erwähnt, weit in der zweiten Texthälfte. Das ist erheblich zu spät, da dieses Instrument das universelle Sesam-öffne-Dich ins Knauserparadies bedeutet.

Es fehlt zudem der Hinweis auf einen Lesekniff, den beinahe jede Hauptstadt-WG beherzigt: durch die Probeabonnements, die es von beinahe sämtlichen Zeitungen gibt, lässt es sich leicht einrichten, dass man über das Jahr verteilt jeden Morgen mit aktueller Lektüre versorgt wird. Außerdem: Mit der Bahn kann man ziemlich komfortabel reisen, indem man auf die Frage des Schaffners "Noch jemand zugestiegen?" einfach nicht reagiert.

Bei diesen wohlfeilen Zusätzen versteht sich die Pointe fast von selbst. Denn natürlich sind die knapp neun Euro, die das Buch kosten soll, für den wahren Lebenskünstler eine unnötige Investition. Entweder man setzt sich in die Leseecke einer Buchhandelskette und schreibt, bewaffnet mit Stift und Zettel, die schönsten, bisher unbekannten Ideen einfach ab. Oder man macht es wie der Rezensent und besorgt sich ein Freiexemplar.

BERND WAGNER, LUISE WAGNER: Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler. Eichborn Berlin, Berlin 2008. 143 Seiten. 8,95 Euro.

© SZ vom 31.3.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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