Ausstellung in Paris:Melancholie, wo ist dein Stachel?

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Eine wunderbare Pariser Schau zeigt das Leiden des Jahrhunderts. So, wie es von der Kunst als abendländische Gemütseintrübung behandelt wurde.

Johannes Willms

Wer die wunderbare Ausstellung im Pariser Grand Palais besucht, muss weder um jene Risiken oder Nebenwirkungen fürchten, die eine Konsultation von Arzt oder Apotheker ratsam erscheinen lassen, noch muss er oder sie aus reiner Prophylaxe sich mit Prozac oder einem anderen Anti-Depressivum wappnen. Die von Jean Clair, dem langjährigen und mit Vollendung seines 65. Lebensjahrs am kommenden Freitag in einen vermutlich unruhigen Ruhestand tretenden Direktor des Pariser Picasso-Museums, in geduldiger Arbeit versammelte Ausstellung "Mélancolie. Génie et Folie en Occident" ist ein Sinnenrausch, den man mit keiner Katerstimmung büßen muss. Garantie dafür ist zum einen die überwältigende und in dieser thematischen Geschlossenheit so wohl nie wieder zu sehende Auswahl erstrangiger Kunstwerke aus rund 2500 Jahren wie zum anderen der dramaturgisch vorzüglich rhythmisierte Parcours, den man hier auf zwei Stockwerken durchwandert.

"Melancholie", die überlebensgroße Polyester-Skulptur des Australiers Ron Mueck ist Teil besprochenen Ausstellung. (Foto: Foto: AFP)

Man könnte Jean Clair als den Romancier und Intellektuellen unter den Ausstellungsmachern bezeichnen, als einen, der nicht in zünftiger Manier die Kunstwerke nach einem gleichsam Linné'schen System ordnet und hierarchisiert, sondern sie mit einer gehörigen Portion Lust an Provokation ausnahmslos als Bruchstücke begreift, aus denen er ein großes Epos formt. Mit dieser Fähigkeit, deren Geheimnis umfassende Kennerschaft und immense Geduld sind - an "Mélancolie" arbeitete er bereits seit 1993 -, verblüffte Jean Clair erstmals 1986 mit der von ihm kuratierten Ausstellung "Vienne: l'Apocalypse joyeuse", die Wien als das nervöse Epizentrum aller neuen und verstörenden Tendenzen begriff, die mit den Namen Klimt, Schönberg, Musil oder Freud verknüpft sind. Diese Ausstellung, die Zeugnisse von Skulptur und Architektur, von Malerei und Design miteinander konfrontierte, endete mit einer Folge von Aquarellen eines gewissen Adolf Hitler, dem, man muss diese Entscheidung aus hinlänglich bekannten Gründen bedauern, damals wegen offensichtlicher Talentlosigkeit die Aufnahme in die Wiener Kunstakademie verweigert wurde. Hitlers Aquarellen gegenüber figurierten die Porträts all jener Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Denker, die seiner "Machtergreifung" wegen Wien im Frühjahr 1938 verlassen mussten.

Ließ Jean Clair mit "Vienne" nur die Kralle des Löwen aufblitzen, so gewahrte man dessen ganze Pranke gelegentlich der von ihm verantworteten Ausstellung "L'Ame au Corps. Arts et Science 1793-1993", die ebenfalls im Grand Palais gezeigt wurde und die damals vorzeitig schließen musste, als ein eiserner Bolzen aus der gläsernen Dachkonstruktion der Riesenhalle einem Besucher vor die Füße fiel. Das war zwar ein höchst unglücklicher Zufall, der aber auch eine sehr ironische Bezüglichkeit zum Ausstellungsthema aufwies, das den menschlichen Körper, wie ihn die Künstler imaginierten, mit der manipulativen Anschauung konfrontierte, die Medizin und Wissenschaft sich von ihm machten.

An Manier und Dramaturgie dieser immens material- und beziehungsreichen Schau, die ihr Thema in neun große Kapitel untergliederte, knüpft jetzt die dem Thema der Melancholie gewidmete Ausstellung an. Diesmal bescheidet sich Jean Clair mit acht Kapiteln, die in chronologischer Abfolge die künstlerische Verhandlung dieser Gemütsverfassung von der Antike bis zur Moderne dokumentieren.

Die Melancholie, die sich medizinisch als eine besonders schwere Depression verstehen lässt, wurde, wie die Ausstellung zeigt, seit je von der abendländischen Kunst reflektiert, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Ja, die Melancholie kann geradezu als die spezifisch abendländische Gemütseintrübung gelten, insofern sie einer kulturellen Tradition verhaftet ist, die es nur hier gibt und deren Nährboden sich zu einem erheblichen Teil mit dem jüdisch-christlichen Schuldkomplex identifizieren lässt. Dessen ungeachtet sind ihre Wurzeln in der vorchristlichen Antike zu bestimmen, wo die Melancholie eine seelische Verfassung kennzeichnete, die sich als "Trauer der Vollendung" charakterisieren lässt und die Aristoteles zu der bekannten Feststellung veranlasste: "Warum waren alle die, die in Philosophie, Politik, Dichtung oder in den Künsten Herausragendes geleistet haben, allem Anschein nach Melancholiker?"

Dass die Antike die Melancholie als Schwester der Vollendung im Außergewöhnlichen begriff, das demonstriert die Ausstellung sehr überzeugend an zwei Ajax-Darstellungen. Ajax, jener zweite große Held im griechischen Heer vor Troja, der, nach siegreich bestandenem Zweikampf mit Hektor, den Leichnam des Achill birgt, sich aber aus Enttäuschung darüber, dass dessen Waffen nicht ihm, sondern dem Odysseus zugesprochen werden, den Tod gibt: Das Motiv des über seinen Selbstmord Nachsinnenden - einmal als Relief dargestellt auf einer Amphore aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, zum anderen als Kleinbronze aus der Epoche des Augustus - zeigt bereits die auch für viele spätere Darstellungen von Melancholie typische Haltung des Patienten: Das Auge ist blicklos ins Ungefähre gerichtet und der allzu schwere Kopf ruht auf einer Hand auf.

Diese Pose ist emblematisch für jene spezifische seelische Befindlichkeit der Melancholie, die unbeschadet aller Veränderungen in der Diagnose ihrer Ursachen bis in unsere Zeit hinein für die Ikonografie dieser Gemütsverfassung verbindlich ist. Der Bogen, den der Besucher der Ausstellung an Hand dieser Pose nachvollziehen kann, reicht von der Antike bis hin zu Van Goghs berühmten "Porträt du Docteur Gachet", ja bis zur Platzanweiserin auf Edward Hoppers 1939 entstandenem Gemälde "Cinema in New York". Allein daran schon erweist sich, wie stimmig die These dieser grandiosen Schau ist, die sich anheischig macht, die historische Pathologie jener Depression als ein Leitmotiv der abendländischen Kunst zu erweisen.

Allein diese Ausstellung zeigt auch, dass die leitmotivische Strahlkraft der Melancholie für die europäische Kunst in unserer Zeit verblasst ist. Der entscheidende Bruch liegt bezeichnenderweise aber noch vor ihrer Identifizierung und Diagnose als Seelenkrankheit durch die Psychiatrie. Spätestens mit Caspar David Friedrich endet nämlich, wie diese Ausstellung zeigt, die Faszination von Melancholie als ein Sujet künstlerischer Vergewisserung; die Melancholie wird von nun an nicht mehr vom Künstler abgeschildert, sondern wird ihm zur Quelle der Inspiration. Seither wird Melancholie von der Kunst geradezu zum "Leiden des Jahrhunderts" stilisiert. Der Erfolg, den Arnold Böcklin mit seinem Gemälde "Die Toteninsel" hatte, das er wegen des großen Zuspruchs der Sammler in den 1880er Jahren in mehreren Versionen malte, liefert dafür einen sehr anschaulichen Beleg.

Mit anderen Worten: In dem Maße, wie die moderne Psychiatrie die Melancholie als seelische Erkrankung diagnostizierte und damit entmystifizierte, kurz, sie als ein Krankheitsbild spezifizierte, weitete sie sich mit und durch die Kunst zu einer seelischen Befindlichkeit aus, in der die Moderne bis jüngst ihr narzisstisches Spiegelbild gewahrte. Dass dieser Spiegel unterdessen jedoch trübe geworden ist, das zeigen in dieser herausragenden Ausstellung eindrücklich die Skulpturen von Anselm Kiefer, Ron Mueck oder Claudio Parmiggiani, deren Botschaft nur noch routiniert und irgendwie melodramatisch wirkt. Auch ohne Prozac, so hat es den Anschein, ist die Melancholie als Quelle künstlerischer Inspiration versiegt.

"Mélancolie. Génie et Folie en Occident", Grand Palais, Paris, bis 16. Januar 2006. Info: Tel. 0033 /1 / 44 13 17 30. Katalog 49 Euro.

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