Ausstellung in Bilbao:Alle auf einmal

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Das Guggenheim-Museum in Bilbao zeigt eine Gesamtschau russischer Kunst. Doch eine gerade Geschichte lässt sich zur russischen Kunst nicht erzählen.

MERTEN WORTHMANN

Der Legende zufolge saßen der Direktor der Guggenheim-Stiftung, Thomas Krens, und Russlands damaliger Kulturminister Michail Schwidkoi vor etwa drei Jahren auf der Terrasse der Guggenheim-Filiale in Venedig zusammen, nachdem sie gerade eine Malewitsch-Retrospektive eröffnet hatten. Schwidkoi fragte launig: So what"s next? Woraufhin der großflächig planende Krens ganz unbescheiden sagte: Why not ¸¸Russia"? Why not all of it? Und so geschah es. Die fertige Ausstellung zeigt, laut Untertitel, ¸¸Meisterwerke aus 900 Jahren". Und weil sie tatsächlich einen ordentlichen Rundumschlag bedeutet, hat man ihr gleich noch ein Ausrufezeichen verpasst: ¸¸Russia!" hieß sie, als sie im vergangenen September in New York eröffnet wurde, und jetzt, in Bilbao, heißt sie, landestypisch geschrieben: ¸¸¡Rusia!". Ein Titel mit eingebautem Lautsprecher.

Eric Bulatov, "Krasikovstraße" 1977 (Foto: Foto: Katalog)

Das bisschen Marktschreierei ist nicht ganz fehl am Platze; so einen fetten Überblick bekommt man schließlich selten zu sehen. Doch natürlich gibt es auch Lücken bei einem solchen Galopp durch die Jahrhunderte. Deshalb verlässt man die Ausstellung satt und hungrig zugleich. Eine gerade Geschichte lässt sich zur russischen Kunst nicht erzählen. Aber es gibt darin zwei komplementäre Fluchtpunkte: die Ikonenmalerei des 13. bis 17. Jahrhunderts und den Sozialistischen Realismus des 20. Jahrhunderts. Beide Schulen hatten ihre eigenen Regeln, gegen die eine größere künstlerische Autonomie erst erstritten werden musste. Im Fall der Ikonenmalerei war das ein langwieriger Prozess, der über die Aneignung westlicher Maltechniken und die Protektion durch weltoffene Zaren verlief. Der Sozialistische Realismus war demgegenüber eine klare Kappung bereits eroberten Terrains. Als Stalin Mitte der dreißiger Jahre den neuen Kanon festzurrte, lag die große Zeit der russischen Avantgarde kaum 20 Jahre zurück. Spannend sind dabei weniger die orthodoxen Perioden als jene Werke, die sich den Weltanschauungen entzogen haben.

Ein Schlüsselwerk der Ausstellung ist Ilja Repins berühmtes Bild ¸¸Treidler an der Wolga" von 1870-73. Es hängt quer zur Flucht der Säle, so sieht man es schon von weitem. Die ausgemergelten Treidler, eingespannt in die Riemen, an denen sie das Segelschiff den Fluss entlang ziehen, wirken wie Kettensklaven, obwohl die Leibeigenschaft bereits 1861 beendet worden war. Auf Repins Bild bekommt das leicht goldene Licht, das über vielen russischen Landschaftsgemälden liegt, eine unbarmherzig glühende Note. Symbolisiert es anderswo einen spirituellen Schirm, so strahlt es hier voll Gnadenlosigkeit. Von Gott sind die Treidler längst verlassen; und eine Revolution scheint weit entfernt. Allerdings macht der jüngste Bursche aus dem Tross Anstalten, den Riemen abzustreifen. Sein Körper ist aufgerichtet, er sieht trotzig der Sonne entgegen.

Repin gehörte seinerzeit den so genannten ¸¸Wandermalern" an, einer Gruppe kritischer Realisten, die sich mit der staatlichen Kunstakademie überworfen hatten, weil sie ihre Gegenstände selbst wählen wollten. Wichtiger als die formale Innovation war ihnen einstweilen der freie Zugriff aufs Sujet. Von 1863 bis in die 90er Jahre des Jahrhunderts hinein malten sie nicht nur die russische Landschaft, sondern auch Zusammenkünfte von Oppositionellen, die Inhaftierung von Aufständischen oder den Leichnam einer Selbstmörderin im Morgennebel. Die dynamische Untersicht-Komposition von Grigori Mjasoedovs ¸¸Herbstzeit" (1887), auf der eine Gruppe Schnitter bei der Arbeit im Weizenfeld zu sehen ist, monumentalisiert die Fron zugleich. Hier ist das vergoldete Licht wieder gnädig. Das Bild wurde umgehend vom Zaren erworben. Und gute 60 Jahre später, zur furchtbaren Glanzzeit des Sozialistischen Realismus, schuf Andrej Milnikov mit ¸¸Auf friedlichen Feldern" eine Variation auf Mjasoedovs Vorlage, mit lachenden Landarbeiterinnen inmitten eines leuchtenden Blumenteppichs. Nun war keine kritische Lesart mehr erlaubt.

In Bilbao sind ein paar stalinistische Schinken zu sehen, die wie gewaltige Paukenschläge ohne Resonanzboden wirken. Sie sind in einem extrahellen Saal aufgereiht, der von den Kuratoren ¸¸Märchenhalle" genannt wird. Hier hängt, zu Unrecht, Alexander Deinekas ¸¸Abgeschossener Flieger" von 1943; hier hängen, schon eher vertretbar, Deinekas ¸¸Verteidigung von Sebastopol" (1942) und ¸¸Flieger von morgen" (1938), zwei plakativere Bilder im Dienste des sowjetischen Fortschritts. Deineka gehört, mit fünf Werken, neben Malewitsch und Michail Wrubel (je sechs), zu den am häufigsten vertretenen Künstlern in der 275 Stücke zählenden Ausstellung. Seine beiden früheren Bilder von 1927, ¸¸Textilarbeiterinnen" und ¸¸Die Verteidigung von Petrograd", zeigen noch Spuren der vorhergehenden Avantgarde. Deineka stellt seine Figuren in eine stark abstrahierte Umgebung. Die Körper scheinen halb transparent, noch nicht ganz aus Fleisch und Blut zu sein. Es ist, als sehe man dem neuen Menschen, einem zarten Gespinst aus viel Hoffnung, beim Aufbau seiner eigenen Welt zu. Der Sozialistische Realismus machte Schluss mit derlei schwebenden Verfahren und gewann erst in der Chruschtschow-Ära eine gewisse Doppelbödigkeit zurück - mit den eigensinnigen Proletarier-Charakteren von Victor Popkov oder den schrundigen Kämpfern von Helio Korzhev. Auch davon würde man gern mehr sehen. Von Korzhevs Triptychon ¸¸Kommunisten" wird sogar nur der Mittelteil gezeigt. Schließlich muss es ja mit Siebenmeilenschritten weitergehen durch die ¸¸inoffizielle" Kunst der Sowjetunion und dann kurz übers weite Feld der aktuellen russischen Kunst.

Die meisten Werke der jüngsten Zeit nähren sich von den Resten des zerfallenen Sowjet-Reiches. Rote Fahnen, Lenins Leiche, Stalins Porträt, die Mir, eine lebensgroße Puppe von Juri Gagarin - noch hat kein neues Set von starken Zeichen das alte ersetzt. Im allerletzten Raum steht Vadim Zacharovs Installation ¸¸Die Geschichte der russischen Kunst" aus fünf begehbaren Aktenordnern, in denen die Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts spielerisch zusammengefasst werden. So schließt die gedrängte Gesamtschau des Guggenheim mit einer selbstironischen Volte: Lächerlich, so viel Geschichte so knapp katalogisieren zu wollen. Trotzdem: ein beeindruckendes Werk.

¡Rusia!, Guggenheim Bilbao, bis 3. September. www.guggenheim-bilbao.es.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.87, Donnerstag, den 13. April 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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