Aus dem SZ-Magazin:So viel Hirn verträgt kein Mensch

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Moderne Produkte sind einfach zu schlau für uns. Die Welt wäre bedeutend besser, wenn sie weniger könnten.

Meike Winnemuth

Wir leben im Zeitalter der Featuritis.

(Foto: N/A)

Mit diesem Wort bezeichnen Designkritiker das Überladen aller möglichen Geräte mit Funktionen, die keiner will, keiner braucht und von denen viele Käufer oft nicht mal wissen. Geschirrspülmaschinen mit 24 verschiedenen Optionen auf dem Display, Mousepads, die gleichzeitig Uhr, Rechner und Radio sind - die Gebrauchsanweisungen werden immer dicker und die Nerven immer dünner. Die BMW 7er-Serie etwa bietet 700 verschiedene Funktionen in ihrem gefürchteten "iDrive"-Bordcomputer.

Per Drehknopf durch acht Hauptmenüs und unzählige Untermenüs werden Serviceleistungen angezeigt, für die früher ein Knopf gereicht hat: warm-kalt, laut-leise. Die Espressomaschine Bosch Benvenuto B 30 hat zwölf Getränkeoptionen und verlangt unzählige Entscheidungen über Energiesparmodus, Timereinstellungen und Wasserhärtegrad-Bestimmungen. Toller Service, finden die Hersteller. Eine Belästigung, findet der Designtheoretiker Jakob Nielsen: "Jede Funktion ist eine Sache mehr, die man lernen muss, die man missverstehen kann oder die einem Zeit raubt, während man nach der Funktion sucht, die man eigentlich will."

Warum konstruieren die Firmen mit solcher Begeisterung Monster statt Maschinen? "Design ist marketinggetrieben: Jeder Hersteller will den anderen mit mehr Features ausstechen. Ergebnis: ein Wettrüsten auf Kosten des Verbrauchers", sagt Nico Michler von der Münchner Designberatungs-Agentur Designafairs. Alles, was machbar ist, wird gemacht: In einem Zeitalter, da ein Durchschnittsauto mehr Rechenleistung beherbergt als die erste Mondrakete, benötigt man nur zwei Zeilen in einem Software-Code, um eine neue Funktion hinzuzufügen. Gleichzeitig schrumpfen die Geräte, werden Tasten doppelt und dreifach belegt - was zu Designentscheidungen führt, die gegen jede Intuition gerichtet sind. Wie etwa die Idee, ein Handy einzuschalten, indem man auf die "Gespräch beenden"-Taste drückt.

Auch wenn wir noch so stöhnen über die Kompliziertheit der Technik - wir sind selbst schuld. Eine Studie in der "Harvard Business Week" wies kürzlich nach: Wenn wir im Laden stehen und uns für ein Produkt entscheiden, zählt die Menge der Eigenschaften, die auf den Karton gedruckt sind. Mehr ist mehr, so die Überzeugung. "Wenn Käufer sich allerdings zu Hause mit dem Gerät beschäftigen, sieht das ganz anders aus", so Roland T. Rust, der Leiter der Studie, "plötzlich verlangen sie Einfachheit und Reduktion." Haben wir zuvor noch gedacht, ein paar Zusatzfunktionen können nicht schaden, stellen wir jetzt fest: Doch, können sie. Sie sorgen für Fehler und Zeitverschwendung, dafür, dass wir jedes Mal unsere Ohren fotografieren, wenn wir eigentlich nur einen Anruf entgegennehmen wollen.

Nötig wäre also ein Paradigmenwechsel, sagt Jakob Nielsen: "Jahrzehntelang war 'mehr' das Mantra. Es wird unglaublich schwer sein, die Leute zu überzeugen, dass weniger besser ist." Bis dahin stecken die Hersteller in einem Dilemma: Wollen sie per Featuritis hohe Stückzahlen absetzen und systematisch für Frustration sorgen oder lieber langfristig zufriedene Käufer gewinnen?

Beides geht, meint Nico Michler. Das Ziel nennen die Entwickler "Simplexity": komplexe Funktionen auf der Benutzeroberfläche so simpel wie möglich darstellen. Die Leute wollen Toast, keinen Toaster, lautet das Mantra. Geräte sollen sich so unsichtbar wie möglich machen. Fast alle größeren Firmen haben deshalb so genannte Usability Labs eingerichtet, die die Benutzerfreundlichkeit erforschen. Nicht selten sind die Entwickler einem Nervenzusammenbruch nahe, wenn sie hinter Einwegspiegeln beobachten, wie die Kunden an ihren Geräten scheitern.

Der Erfolg des iPod hat bewiesen, dass man mit simplem Design für exakt einen Zweck - Musikhören - viel Geld verdienen kann. Und selbst wenn Google inzwischen ein Milliardenmoloch mit E-Mail-Dienst und Kartografierungsfunktion geworden ist: Das Unternehmen hat immer noch die spartanische Website beibehalten, mit der es 1998 das Suchen im Netz revolutionierte.

Auch andere Firmen setzen auf Einfachheit. Vodafone bietet zwei "Simply"-Handys mit ordentlichen Displays und zwei großen Tasten für die meistgebrauchten Funktionen: Telefonbuch und Abrufen von SMS oder Mailbox-Nachrichten. Für den Herbst ist eine neue Windows-Version namens Vista angekündigt, die sich ausdrücklich der Vereinfachung verschreibt: Von den 26 Mausklicks, die es derzeit braucht, einen Textkasten in ein Dokument einzubauen, sollen dann nur noch vier bleiben. Und Mercedes hat jüngst 600 Funktionen in seinen Autos gelöscht, "Schnickschnack. Funktionen, die niemand nutzt und die niemandem nutzen", wie Stephan Wolfsried, Leiter des Bereichs Elektrik/Elektronik bei Mercedes sagt. Beispiel: die Speicherung der individuellen Sitzposition im Autoschlüssel. "Das ist zwar gut gemeint, aber wenn ich dann mal den Schlüssel meiner Frau nehme und meine eigene Sitzposition nicht mehr finde, ist das für mich eher ärgerlich als komfortabel."

Aber es ist nicht reine Menschenfreundlichkeit, die das Umdenken eingeleitet hat. Denn manchmal ist Einfachheit doch ein gutes Geschäft. Die Entscheidung des Büromittelhändlers Staples, seine Homepage zu vereinfachen, brachte ihm sechs Millionen Dollar zusätzlich pro Monat ein. Durch die Entrümpelung des Bestellprozesses ist die Zahl der Kunden, die entnervt die Seite verließen, ohne zu kaufen, um 73 Prozent gesunken.

Einfacher zu bedienende Geräte sind zwar teurer in der Entwicklung und in der Testphase, rechnen sich aber langfristig enorm. Trainingsphasen werden kürzer, Anfragen verzweifelter User an Help-Hotlines reduziert. Und am Ende sorgen simplere Geräte natürlich auch oft dafür, ein paar Arbeitsplätze über die Klinge springen zu lassen. Fast alle Fluglinien arbeiten derzeit an narrensicheren "Self check-in"-Geräten, die künftig von zwei Dritteln aller Passagiere genutzt werden und das Bodenpersonal ersetzen sollen.

Doch bei allen Anstrengungen der Entwickler, etwa mit Hilfe des "Mutti-Tests" zu erforschen, ob etwas benutzerfreundlich ist: Manchmal ist auch Mama machtlos. Als Microsoft-Chef Steve Ballmer seiner Mutter Windows 95 vorführte, bevor er es auf den Markt warf, fragte sie am Schluss: "Und wie schalte ich es aus?" Ballmer deutete auf den Startknopf. "Man drückt auf Start, um es zu stoppen?" Genau. Und ein paar Windows-Versionen später tut man das immer noch.

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