Antisemitismus in Frankreich:Die Gefahr kommt von unten

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Die Historikerin Diana Pinto spricht über die Ängste französischer Juden, extremistische Imame und religiöse Bandenkriege in Paris.

Janek Schmidt

Seit vor einiger Zeit ein jüdischer Jugendlicher in Paris bewusstlos geschlagen wurde, sind viele Franzosen beunruhigt. Sie fragen sich, wie verbreitet Antisemitismus in ihrem Land ist, welche Gruppen dahinter stehen und warum diese Gewaltexzesse immer wieder in Frankreich geschehen? Die Historikerin Diana Pinto lebt in Paris und ist Senior Fellow am Institute for Jewish Policy Research in London, in dessen Rahmen sie ein Projekt über religiöse und ethnische Minderheiten leitet.

"Fass meinen Freund nicht an": Nach dem gewaltsamen Tod eines jungen Juden in Paris protestierten 2006 Zehntausende gegen Antisemitismus. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Fühlen Sie sich als Jüdin in Paris von Antisemitismus bedroht?

Diana Pinto: Persönlich nicht, weil ich in einem wohlhabenden Viertel lebe. Aber in Unterhaltungen über Israel begegne ich antisemitischen Einstellungen, und wenn ich einen Kippa-tragenden Sohn hätte, dann hätte ich Angst, sobald er in bestimmte Gegenden von Paris geht.

SZ: Wie gehen Pariser Juden mit solchen Ängsten um?

Pinto: Viele Jugendliche wollen nicht auffallen und tragen über ihrer Kippa eine Baseball-Kappe. Sie gehen auf jüdische Schulen, um Ärger aus dem Weg zu gehen. Andere gründen Banden im Stil der "West Side Story" zu ihrer Verteidigung. Der Junge, der vor kurzem angegriffen wurde, war anscheinend an diesen Bandenkämpfen beteiligt.

SZ: Gibt der Angriff weitere Aufschlüsse über Antisemitismus in Frankreich?

Pinto: Der Tatverdacht gegen die fünf schwarzen Jugendlichen kann sich als Bestätigung dafür herausstellen, dass es hier einen Neuen Antisemitismus gibt.

SZ: Was ist daran neu?

Pinto: Er kommt weniger aus der alten, extremen Rechten, sondern vereint linke, israelkritische Positionen mit islamistischen Tendenzen - ist aber nicht ausschließlich islamisch. Der alte Antisemitismus kam von oben, aus den Eliten, und wurde ausgenutzt, um die Unterschicht zu mobilisieren. Die Leute, die 1938 Synagogen zerstörten, taten das auf Befehl und hatten zu Hause Frauen, die ihre braunen Hemden bügelten. Der Neue Antisemitismus kommt von unten, von aggressiven Schlägern mit einer Gewaltbereitschaft, die auf Juden ausgerichtet, aber nicht auf sie beschränkt ist.

SZ: Wie passen die farbigen Tatverdächtigen in dieses Bild?

Pinto: Seit etwa zehn Jahren gibt es auch unter Schwarzen zunehmend Judenhass. Der beruht auf Argumenten wie: "Genug vom Holocaust! Unsere Vorfahren haben unter Sklaverei gelitten; die hat länger gedauert und mehr Todesopfer gefordert als der Holocaust. Darüber wollen wir reden!" Der Schwarze Antisemitismus ist zahlenmäßig schwächer als der muslimische, aber viel gewalttätiger. Angriffe auf Juden kamen meist von Schwarzen, auch in dem schrecklichen Fall, als vor zwei Jahren ein Jude zu Tode gequält wurde.

SZ: Welche Ursachen hat dieser Antisemitismus?

Pinto: Wie beim klassischen Judenhass sind Neid, Wut und Angst vor einer Dominanz der Juden eine Ursache. In Frankreich wird der Neid dadurch verstärkt, dass manche Juden wie die meisten Muslime aus Nordafrika kamen, aber viel erfolgreicher waren. Die Angriffe haben auch mit Protest und der Suche nach Aufmerksamkeit zu tun, und werden vom Palästinenserkonflikt angeheizt.

SZ: Muslimwissenschaftler wie Tariq Ramadan kritisieren, der Begriff des "Neuen Antisemitismus" befeuere Spannungen zwischen Muslimen und Juden.

Pinto: Ich akzeptiere Ramadans Ansicht, dass man jeglichen Antisemitismus bekämpfen sollte und damit basta! Dann sollte er aber auch klassische antisemitische Äußerungen verurteilen, und zwar nicht nur aus Iran, sondern aus der gesamten muslimischen Presse, die übers Internet ja nach Europa gelangt.

SZ: Ist Frankreich davon besonders betroffen?

Pinto: Ich denke schon, allein wegen der Zahlen: Außer in Israel und den USA gibt es nirgends so viele Juden wie hier: 700000. Gleichzeitig leben hier mehr Muslime als in anderen europäischen Ländern. Sie haben als Araber auch noch eine stärkere Bindung zu den Palästinensern als Türken in Deutschland oder Pakistaner in England. Manche Juden und Muslime leben in denselben Vierteln, da sind Spannungen programmiert.

SZ: Außer in Marseille . . .

Pinto: Marseille ist eine Ausnahme. Da gibt es eine lange Geschichte guten Zusammenlebens von Muslimen und Juden.

SZ: Woran liegt das?

Pinto: Manche Soziologen sagen, die Leute in Marseille leben noch im mediterranen Umfeld und einer Tradition des friedlichen Miteinanders statt im grauen Suburbia anderer Städte. Andere verweisen darauf, dass Muslime in Marseille im Stadtzentrum leben statt in den Vororten, und so weniger Ghetto-Gewalt entsteht. Aber auch der Drogenhandel in Marseille dient als Erklärung. Die Drogenbarone verschaffen den Jugendlichen Jobs als Dealer, und da sie Ruhe wollen, halten sie sie davon ab, die Polizei oder Juden anzugreifen.

SZ: Wie bedrohlich sehen Sie die Situation im restlichen Frankreich?

Pinto: Die Lage ist nicht vergleichbar mit der einstigen Nazi-Bedrohung für eine gesamte Gesellschaft. Aber heute erscheint mir der neue Antisemitismus gefährlicher als der aus der extremen Rechten, weil der Judenhass einiger Muslime eine globale Bewegung ist.

SZ: Nimmt die Gefahr dieser Bewegung in Frankreich zu?

Pinto: Ich glaube nicht. Die Jahre 2002 bis 2004 waren sehr schlimm, damals vervierfachte sich die Zahl der antisemitischen Angriffe. Seitdem sind die Vorfälle wieder leicht zurückgegangen, und vor allem haben viele Idole der Muslime und Schwarzen, wie etwa der karibische Komiker Dieudonné, ihre antisemitischen Parolen eingestellt. Sie haben mittlerweile Angst vor strengen Gesetzen und einem schlechten Image

SZ: Welche Rolle spielen Imame?

Pinto: In Frankreich ist ihre Rolle weniger bedeutend als etwa in England, wo mehr Redefreiheit herrscht. Frankreich ist bei der inneren Sicherheit äußerst autoritär. Das Innenministerium kann auf viele gemäßigte Muslime zurückgreifen, und so hat die Polizei in fast allen Moscheen V-Männer. Deswegen gibt es hier keine Moscheen mit so bekannten Hasspredigern wie etwa dem früheren Imam in Finsbury Park in London.

SZ: Was kann man sonst gegen die antisemitische Gewalt unternehmen?

Pinto: Wir müssen benachteiligten jungen Leuten eine Chance geben aufzusteigen. Antisemitismus hängt zwar nicht unbedingt von sozialen und ökonomischen Faktoren ab, aber die allgemeine Gewaltbereitschaft schon. Und Menschen mit Einfluss über ethnische und religiöse Gruppen müssen ihre irreführende, populistische Rhetorik ganz einstellen und die Komplexität der Lage erklären. Nur so können wir die Spannung entschärfen.

© SZ vom 18.7.2008/mst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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