Annie Ernaux:Yvetot statt Combray

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Mit den Mitteln der Literatur die eigene Mutter auf die Welt bringen: In der autobiografischen Feldstudie "Eine Frau" umkreist Annie Ernaux ein weiteres Mal ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen.

Von Helmut Böttiger

Man lebte durch Rituale und Sehnsüchte – Annie Ernaux seziert die Vergangenheit. (Foto: mauritius images / Andrew Eaton)

Biografien wie die von Annie Ernaux gibt es auch in Deutschland. Umso erstaunlicher ist, dass das Problem, das sie ständig umkreist, anscheinend nur in Frankreich als ein solches benannt wird: Den sozialen Aufstieg durch Bildung empfindet man dort viel schneller als Verrat an der eigenen Herkunft, an der eigenen Klasse. Die 1940 geborene Annie Ernaux gehört der ersten Generation an, für die es möglich war, als Angehörige der Unterschicht zu studieren. Die Entfremdung, die daraus resultiert, die Entfremdung von den eigenen Eltern, von der eigenen Kindheit und den dort vermittelten Werten, scheint gerade im heutigen Frankreich äußerst virulent zu sein. Das lange als selbstverständlich vorausgesetzte Klassenbewusstsein hat sich mittlerweile aufgelöst. Wo man, selbst auf dem Land und in der entlegensten Provinz, lange kommunistisch wählte, gedeiht heute der Rechtsradikalismus.

Didier Eribon, der mit "Rückkehr nach Reims" den zur Zeit empfindlichsten Punkt des intellektuellen französischen Selbstverständnisses getroffen hat, beruft sich programmatisch auf Ernaux. Sie hat die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft zu einem ureigenen Sujet gemacht, mit einer literarischen Sprache, die eine ganz spezifische Distanz erfasst und befragt. Das zeigt sich bereits im Titel des Buches. Er lautet "Eine Frau", meint aber: Meine Mutter.

Selbst das Ureigenste scheint nicht sicher. Die Mutter, "die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat", ist wie ein Untersuchungsgegenstand. Die Autorin nähert sich ihr wie mit einem weißen Kittel, der Unberührbarkeit und Neutralität signalisiert. Im Original 1987 erschienen, steht dieses Buch in einer Reihe mit den anderen, mittlerweile berühmt gewordenen autobiografischen Suchbewegungen von Annie Ernaux, wie "Der Platz" oder "Die Jahre", die sie als "Ethnologin ihrer selbst" lange vor der aktuellen Aufladung ihrer Thematik geschrieben hat.

Man sollte sich vom schmalen Umfang auch dieses Buches nicht täuschen lassen. Es sind, bei aller vermeintlichen Schlichtheit, äußerst konzentrierte Sätze, bei denen vieles weggelassen wird und in denen jedes Wort schwer zu wiegen scheint. Das Bemühen um Neutralität wird umso deutlicher, je stärker Emotionen berührt werden. Der Text beginnt mit zögernden, sich vorantastenden Sätzen über die Beerdigung jener fremd gewordenen Frau, mit Szenen aus dem Langzeitpflegeheim und der Leichenhalle, in denen die wenigen wörtlich wiedergegebenen Zitate in direkter Rede grell herausstechen - sie sind die Realitätspartikel, die am meisten schmerzen. Dezidiert hält sich die Schreibende mit ihren eigenen Gefühlen zurück, das Buch wird zu einer Feldstudie ohne jegliches theoretische Vokabular.

Während der Text langsam entsteht, hat die Autorin "das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch auf die Welt zu bringen". Das Verhältnis zwischen Leben und Literatur kehrt sich um. Allmählich erhält die Mutter Konturen, Schlaglichter erhellen den kleinen Aufstieg vom Fabrikmädchen zur Inhaberin eines bescheidenen Lebensmittelladens in einem Landstädtchen der Normandie, dem eine Kneipe angeschlossen ist. Es geht um Armut, um Kargheit, um immer wiederkehrende Gesten und Sätze. Ernaux holt aus ihrem Gedächtnis in minutiöser Kleinarbeit charakteristische Details hervor, sie seziert die Vergangenheit.

Wenige Jahre nachdem ihr Mann gestorben ist, zieht die Mutter zu ihrer Tochter

Genau beschworen werden die Kleider, die Verrichtungen im Haushalt, einzelne Wortfetzen. In der Familie wurde wenig gesprochen, es gab keinen Ausdruck für Gefühle, man lebte durch Rituale und Sehnsüchte. Zwischen Schlägen und Umarmungen lagen manchmal nur wenige Minuten. Und Sexualität gab es nicht. Als die Tochter zum ersten Mal ihre Regel bekam, hielt ihr die Mutter wortlos eine Monatsbinde hin, ohne zu erklären, wie man sie benutzt.

Die Mutter wollte in ihrer Jugend ein "anständiges Mädchen" sein. Das war aber schon dadurch gefährdet, dass sie in einer Seilerei mit Männern zusammenarbeitete. Beständig vor Augen standen die Gefahren, die einer Arbeiterin drohten, wenn sie "sich gehen ließ", wenn sie also rauchte, sich abends auf der Straße herumtrieb oder in schmutzigen Kleidern vor die Tür ging - die größte Angst war die, dass kein junger Mann "mit ernsten Absichten" sie mehr wollte. Annie Ernaux setzt solche Partikel - "sich gehen lassen", "mit ernsten Absichten" - in Anführungsstriche, sie verdichten dadurch die Atmosphäre, evozieren das Lebensgefühl. Und eine beständige Bedrohung war der Alkohol: Einmal begegnete die Autorin in ihrer Kindheit zufällig auf der Straße ihrer Tante M., die eine Tasche voll leerer Flaschen schleppte, sie auf die Wangen küsste, aber dabei sofort ins Schwanken geriet und kein Wort sagen konnte: "Ich glaube, ich werde niemals so schreiben können, als hätte ich meine Tante an jenem Tag nicht getroffen."

Überhaupt wechselt die Autorin gelegentlich unvermittelt vom Präteritum ins Präsens und reflektiert, was sie tut: "Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann." Zugleich will sie aber "unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt". Manchmal ist die Spannung kaum mehr auszuhalten, die dadurch entsteht, dass es sich bei der beschriebenen Figur um ihre konkrete Mutter handelt. Die Autorin heiratet in "bessere Kreise", beginnt ein arriviertes Leben in bürgerlichem Ambiente. Die Erwähnung ihrer Schwiegermutter birgt eine prägnante Skizze des französischen Bürgertums und kontrastiert schmerzhaft mit der Lebenswelt der Mutter.

Wenige Jahre nachdem ihr Mann gestorben ist, zieht die Mutter zu ihrer Tochter, und trotz aller Lebenszugewandtheit und Neugierde auch der neuen Umgebung gegenüber hinterlässt der Zusammenprall unterschiedlicher Vorstellungen eher Trostlosigkeit und Leere. Das liegt vor allem daran, dass die Ladenbesitzerin und gewinnende Verkäuferin schon früh gewisse Verhaltensweisen dieser "besseren Kreise" abzuschauen versucht hatte. Die unfreiwillige Komik, die dadurch entstand, spürte sie nicht.

Manche Szenen dieses Buches berühren in ihrer starken allegorischen Kraft. Einmal wird beiläufig festgehalten, dass die Mutter, die sonst sehr bodenständig und zupackend ist, sich die Hände wäscht, bevor sie ein Buch anfasst. So bildet der unscheinbare Ort Yvetot in der Normandie, den Annie Ernaux immer wieder neu umkreist, in der französischen Literaturgeschichte mittlerweile einen programmatischen Widerpart zu Marcel Prousts Combray.

Annie Ernaux: Eine Frau. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 88 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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