Analphabeten auf der Buchmesse:Wie Blinde im Kino

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In Frankfurt waren sie schon vor Jahren. Aber dieses Mal werden sie zum ersten Mal nicht mehr belächelt. In einer eigenen Kampagne nimmt sich die Messe des Themas Analphabetismus an.

Judith Kessler

Horst Uhrig nennt es "Schreibangst". Schreibangst, das war das Zittern und die Schweißausbrüche, wenn er einen einfachen Satz zu schreiben hatte. "So muss sich bei anderen Menschen Flugangst anfühlen." Uhrig ist 45 Jahre alt, seine Unterschrift könnte auch von einem Grundschüler stammen. Buchstabe für Buchstabe malt er auf das Blatt Papier - in Schreibschrift. "Das ist einfacher, die habe ich als Kind gelernt." An einige Buchstaben konnte er sich dann auch erinnern, als er vor 15 Jahren, mit dreißig, Schreiben lernte.

Vier Millionen funktionale Analphabeten leben nach einer Schätzung des Bundesverbandes Alphabetisierung in Deutschland. Funktionale Analphabeten haben zwar eine Schule besucht, dort aber nie Lesen und Schreiben gelernt. Sie malen Wörter von der Tafel ab, sind selbst aber nicht in der Lage, Buchstaben sinnvoll aneinander zu reihen. Später als Erwachsene schummeln sie sich durchs Leben.

Buchmesse startet Alphabetisierungskampagne

Doch das wird immer schwieriger. Selbst einfache Berufe kommen nicht mehr ohne Computer aus. Wer sich früher als Analphabet mit Jobs als Lagerarbeiter oder am Fließband durchschlagen konnte, hat heute kaum noch eine Chance.

Seit Jahren kommt Horst Uhrig mit dem Verein für Alphabetisierung nach Frankfurt, um auf der Buchmesse auf die Situation der Analphabeten aufmerksam zu machen. Anfangs liefen dessen Mitglieder mit Plakaten durch die Hallen und wurden belächelt. Analphabeten auf der Buchmesse? Da ist ja wie wenn Blinde ins Kino gehen!

Dieses Jahr nimmt sich die Buchmesse zum ersten Mal des Themas an. Im Rahmen ihres neuen Schwerpunkts "Zukunft Bildung" startete in dieser Woche die "Frankfurt Book Literacy Campaign" (LitCam), ein Forum für Alphabetisierungsorganisationen aus aller Welt. Netzwerke sollen geschaffen, Ideen und Konzepte ausgetauscht werden. Und Horst Uhrig steht wie jedes Jahr an einem kleinen Infostand vor Halle 3 und schildert den Alltag eines Analphabeten.

Im Land der Dichter und Denker

"Wichtige Wörter fotografiert man im Geiste ab", erklärt Uhrig. Zu Hause am Küchentisch zeichnete er sie dann nach. In fremden Städten bat er Passanten um Hilfe. "Ich habe immer gleich zugegeben, dass ich nicht lesen und schreiben kann." Peinlich war ihm das anfangs nicht. Viele seiner Bekannten sind Analphabeten.

Kritisch wurde es auf dem Arbeitsamt. Er konnte keine Formulare ausfüllen, von den Beamten war keine Hilfe zu erwarten, die schickten ihn oft einfach weg. "In Deutschland herrscht eine unglaubliche Arroganz und Ignoranz gegenüber Analphabeten", sagt Elfriede Haller vom Bundesverband Alphabetisierung. "Man ruht sich auf dem Ruf des Landes der Dichter und Denker aus." Wer nicht Lesen oder Schreiben könne, werde als dumm abgestempelt.

Horst Uhrig hangelte sich von Job zu Job, musste fast überall die Drecksarbeit machen, mehr traute man ihm nicht zu. Irgendwann aber wollte er sich nicht länger mit 5,75 Mark pro Stunde zufrieden geben und endlich schreiben lernen, brach den Kurs aber bald ab. "Viele sind frustriert, wenn sie nicht sofort das schaffen, was sie sich vorgenommen haben", erläutert Haller. Uhrig schämte sich vor allem vor seinen Mitschülern - alles Jugendliche, die den damals 22-Jährigen belächelten.

Unter www.ich-will-schreiben-lernen.de können Analphabeten anonym im Internet lesen und schreiben lernen. Sie werden dabei von Online-Tutoren begleitet. Etwa 13.000 Schüler nutzten bislang das Angebot, davon wollten 9000 anonym bleiben, berichtet Ralf Kellershohn vom Projekt Zweite Chance, das das Lernportal anbietet.

Fibeln sind Mangelware

"Die Kurse in den Volkshochschulen sind oft kleine Selbsthilfegruppen", sagt Elfriede Haller, die selbst drei Klassen unterrichtet. Es gehe nicht nur darum, das Alphabet zu üben. Viel wichtiger sei für die Schüler, die eigenen Biografie aufzuarbeiten. "Oft sind es traumatische Erlebnisse in den ersten zwei Schuljahren, die das Lernen verhindern."

Horst Uhrig etwa wurde von Heim zu Heim gereicht. Als er mit sechs Jahren zur Mutter zurückkehrt, ist er auf dem Niveau eines Vierjährigen. Elfriede Haller lässt ihre Schüler ihre Lebensläufe aufschreiben. Die Texte dienen im Unterricht als Lehrmaterial - mangels Alternativen. Altersgemäße Lehrbücher sind Mangelware. "Man kann einem Erwachsenen schlecht eine Fibel für Erstklässler vorlegen."

"Ich habe immer Zeitungsartikel abgeschrieben, um zu üben", sagt Uhrig. Seitdem er lesen und schreiben kann, habe sich sein Leben völlig verändert. Als Analphabet sei er wie mit Scheuklappen durch die Welt gegangen. "Erst jetzt ist mir Unterschied zwischen Konditorei und Bäckerei klar geworden."

Wirklich sicher aber fühlt er sich auch heute noch nicht, sagt Uhrig. Mit der Hand schreibt er daher nur, wenn ihm niemand über die Schulter schaut. Denn manchmal kommt sie wieder - die Schreibangst.

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