Amokläufer-Roman:Was will mir dieser Satansbraten?

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Eine Mischung aus Psycho-Thriller und Horrorfilm: Lionel Shrivers Roman "Wir müssen über Kevin reden" erzählt von einer Familie, in der ein Amokläufer heranwächst.

Verena Mayer

Nach dem Amoklauf des 18 Jahre alten Bastian B. an einer Realschule im Münsterland werden nun wieder diese Fragen laut. Was geht in so einem Menschen vor? Wie konnte es dazu kommen? Trifft die Eltern Schuld? Es sind immer dieselben quälenden Fragen, man hat sie sich schon nach dem Massaker an der Columbine High School gestellt und nach dem Blutbad am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, es gibt eigentlich keine Antworten darauf.

Die amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Lionel Shriver hat diese Fragen zur Grundlage eines Romans gemacht. "Wir müssen über Kevin reden" rollt die Geschichte einer Durchschnittsfamilie auf, in der ein jugendlicher Amokläufer heranwächst. Die dritte Frage kann zumindest Lionel Shriver eindeutig beantworten: Ja, Mutter und Vater haben durchaus ihren Anteil an dem, was passiert.

Der Roman beginnt, als alles schon zu Ende ist. Kevin Khatchadourian hat an einem Donnerstag kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag an seiner High School sieben Mitschüler, eine Lehrerin und einen Angestellten mit einer Armbrust getötet. Nun sitzt er im Jugendgefängnis, wo ihn seine Mutter Eva regelmäßig besucht. Die sieht ihrerseits einem Prozess entgegen. Die Angehörigen der Opfer haben sie auf Schmerzensgeld verklagt - solche Verfahren hat es in Amerika nach ähnlichen Bluttaten wirklich gegeben. In 28 Briefen an ihren Mann Franklin versucht Eva, sich jenen Donnerstag zu erklären, und lässt nebenbei ihr Leben Revue passieren.

Das verlief die längste Zeit in den aufregenden Bahnen einer New Yorker Großstadt-Existenz. Eva ist eine selbstbestimmte Frau, die für einen alternativen Reiseführer durch die Weltgeschichte fährt, ihr Lebensgefährte hat sich als Fotograf einen Namen gemacht. Es ist ein Leben zwischen Ausgeben und Ausgehen, das die beiden führen, unabhängig in jeder Hinsicht, Kinder sind in diesem Umfeld "ähnlich rar wie der Fleckenkauz oder andere gefährdete Arten".

Doch eines Tages setzt sich der Ehemann mit seiner immer stärker werdenden Sehnsucht nach Familie durch. Eva ist alles andere als überzeugt von der Idee der Mutterschaft. "Welcher Teufel ritt uns? Wir waren so glücklich! Warum setzten wir alles, was uns lieb war, auf diese eine, wahnsinnige Karte und spielten um ein Kind?" Sie wird trotzdem schwanger - und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Lionel Shriver inszeniert ihren Roman als eine Mischung aus Psycho-Thriller und Horrorfilm. Das Kind, das Eva auf die Welt bringt, ist kein süßes Baby, sondern ein Fremdkörper wie aus der "Alien"-Reihe. Was Kevin auch tut - es scheint darauf ausgerichtet zu sein, seine Mutter zu vernichten.

Tödliche Langeweile

Am Anfang wirkt alles noch recht harmlos, welches Kind schreit schließlich nicht Nächte durch und zieht seine Mutter an den Haaren? Doch nach und nach wächst sich der Kleine zu einem regelrechten Monster aus. Er zerstört mutwillig das, was seiner Mutter am heiligsten ist, er quält andere Kinder und bezichtigt eine Lehrerin der sexuellen Belästigung, sodass sie den Schuldienst quittieren muss.

Wie in einem klassischen Horrorfilm merkt die Welt von diesen Vorgängen lange nichts, da kann sich die Mutter noch so oft über ihren Satansbraten beklagen. Der etwas einfältige Ehemann Franklin tut alles, um seine Vorstellungen vom Familienidyll aufrechtzuerhalten, Kevins Taten hakt er als Lausbubenstreiche ab. Selbst als Kevin eines Tages seine kleine Schwester mit Rohrreiniger verätzt, sucht Franklin die Schuld lieber bei seiner Frau als bei seinem Erstgeborenen.

Raffiniert argumentiert Lionel Shriver aus der Sicht einer Mutter, die keine sein will und nie eine werden wollte. Diese Eva ist ja auch wirklich eine sympathische Frau, intelligent, erfolgreich, witzig, man versteht, dass sie ihre Karriere nicht opfern möchte und schon gar nicht für so einen Jungen. Und warum sollte man sich eines Kindes wegen zu irgendwelchen Zugeständnissen hinreißen lassen?

Man nickt zustimmend, als Eva zum Thema Kind als Erstes die Schlagworte "tödliche Langeweile" und "gesellschaftlicher Abstieg" einfallen. Und als Eva ihren bockigen und bösartigen Sohn gegen einen Tisch wirft und schwer verletzt, möchte man das als verdienten Sieg in einem gleichwertigen Kampf auslegen.

Diese Perspektive mütterlicher Ablehnung ist als Erzählhaltung so eingängig wie auch schockierend. Vermutlich deshalb haben 30 Verlage Shrivers Manuskript abgelehnt. Über Mundpropaganda wurde "Wir müssen über Kevin reden" in Großbritannien und den USA berühmt, im vergangenen Jahr wurde Lionel Shriver schließlich mit dem Orange Preis ausgezeichnet. Denn auf den zweiten Blick ist es dieser kalte Blick der Mutter, der diesen Roman so besonders macht, als Psycho-Thriller genauso wie als Dokumentation einer unaufhaltsamen Katastrophe. Irgendwann wirken Evas Versuche, den Mangel jeglichen Gefühls für ihr Kind aus dessen verkümmerter Persönlichkeit zu erklären, nur mehr selbstgerecht. Bald weiß man nicht, was schlimmer ist: die Gewalttat des Sohnes oder der verächtliche Egoismus der Mutter.

Kevin ist für seine Mutter nur "ein Hütchenspieler, bei dem alle drei Hütchen leer sind", und selbst den Säugling kann sie nur als Feind im Gitterbett empfinden: "Kevin zog sich hoch, ohne sein Jaulen zu unterbrechen. Er klammerte sich an den Stäben fest und schrie mich aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern an, so dass meine Ohren schmerzten. Verzerrt, wie es war, sah sein Gesicht wie das eines alten Mannes aus, und er schraubte es zu dem Dich-kriege-ich-noch-Ausdruck eines Sträflings hoch, der schon mit der Nagelfeile einen Tunnel gräbt."

Kevins Kaltblütigkeit, die eines Tages im neunfachen Mord gipfelt, erscheint da nur konsequent. Dieser Amoklauf lässt sich nicht mit dem Einfluss des Fernsehens oder eines Computerspieles erklären, er ist vor allem auf zwei Leute zurückzuführen, die erst aus Bequemlichkeit keine Kinder wollten und dann aus derselben Bequemlichkeit doch welche in die Welt setzten. Die ein Kind als Eindringling behandeln und sich dann darüber wundern, was dieses Kind alles ersinnt, um wahrgenommen zu werden. Die Einsicht der Mutter kommt spät: "Jetzt fehlen noch drei Tage, dann sind die achtzehn Jahre voll, und ich kann endlich verkünden, dass ich zu erschöpft bin und zu verwirrt und zu einsam, um weiterzukämpfen. Und sei es nur aus Verzweiflung oder sogar nur aus Faulheit: Ich liebe meinen Sohn."

Lionel Shriver liefert in ihrem Roman eine so gewagte wie schlüssige These zur Entstehung von Jugendgewalt. Kevin richtet kein Blutbad an, weil er von Natur aus böse ist, wie seine Mutter das ihrem Franklin gerne glauben machen möchte. Er straft auch jene Lügen, die, wie es anlässlich des aktuellen Falles in Deutschland wieder geschieht, jugendliche Amokläufer darauf reduzieren wollen, dass sie durch Internet-Spiele jeden Bezug zur Realität verloren haben.

Kevin etwa mordet, weil ihm ein eiskalt geplantes Verbrechen als der einzige Weg erscheint, sich über die grausame Selbstgerechtigkeit seines überforderten Elternhauses zu erheben. "Wir müssen über Kevin reden" endet wie eine antike Tragödie. Kevin tötet seinen Vater - ein moderner Ödipus, der seinem Schicksal nicht entrinnen kann, weil es ihm von Geburt an vorgegeben war. Wir werden noch über viele Kevins reden müssen.

LIONEL SHRIVER: Wir müssen über Kevin reden. Aus dem Englischen von Christine Frick-Gerke und Gesine Strempel. List Verlag, Berlin 2006. 560 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ v. 23.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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