Aleš Šteger:Die Wahrheit im Wein

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Der slowenische Schriftsteller Aleš Šteger ist an diesem Mittwoch bei der Literaturfest-Eröffnung im Gasteig zu erleben (19 Uhr), am 15. November auf dem BR-Diwan im Gasteig (18 Uhr) und im Marstall (21 Uhr). (Foto: Bernhard Aichiner)

Wir saßen bei Kaffee und Kuchen. Oder war es Bier? Oder gar Wein? Wir, Poetinnen und Poeten, Versschmiedinnen und Strophenbrecher aus allen Enden Europas, in vielen verschiedenen Sprachen schreibend, viele davon als Dialekte benannt oder als Minderheitssprachen, mitsamt als Nichtamtssprachen der EU. Wir saßen und sprachen in gebrochenem Englisch über - wie könnte es anders sein - die eigene Zunft. Und nach ein paar schnell verstrichenen Stunden konnten wir uns einigen. Die erste Feststellung war, dass in den letzten drei, vier Jahrzehnten der öffentliche Raum für Poesie überall, aber wirklich überall stark geschrumpft ist. Ungeachtet dessen, ob wir aus ehemaligen und immer wiederkehrend sozialistischen, kapitalistischen, bolschewistischen oder gar exhibitionistischen, freudianischen oder pietistischen Gegenden des westlichen Zipfels Asiens stammten, nirgends mehr waren nennenswert große Buchauflagen, Geld und Lorbeer, Nationalheiligtum und Schullektüre für Dichter gang und gäbe. Im Gegenteil. Seit einiger Zeit ist das Kapital aus dem Lyrikbusiness, so weit es nur konnte, entflohen. Übrig geblieben sind nur wir, die Lyrikfanatiker, die überzeugt von Macht und Weitsichtigkeit des Wortes weitermachen.

Zweitens: Mit schwindenden Kapitalinteressen hat sich die übrig gebliebene Lyrikgenossenschaft stark emanzipiert, vom Nationalen ist man auf International umgestiegen und hat neue Parallelsysteme aufgebaut. Durch das generelle Verarmen und Marginalisieren des Metiers zerbrach weitgehend auch die einstige Marktdominanz der großen Sprachen, die die Weltliteratur nach Goethe ausmachten; Autoren, die in Sprachen mit wenigen Sprechern schreiben, haben seit Kurzem viel mehr Chancen auf dem internationalen Parkett als je zuvor. Plattformen wie Lyrikline, Versopolis, Literature Across Frontiers und viele andere befördern neue Kommunikationsformen, und ein jüngerer österreichischer Lyriker hat heutzutage womöglich eher einen zentralen Orientierungspunkt in einer zeitgenössischen schwedischen oder baskischen Lyrikerin als in jemandem zu Hause.

Und drittens: Wir fühlten uns den Prosaschriftstellern und sogar den Dramatikerinnen auf einmal überlegen, viel flinker, besser informiert und vernetzt, auf realem Grund stehend, frischer, so wie nach einer schweren Umstrukturierung in der Automobilbranche. War das nicht Grund genug für mehr Kaffee? Und mehr Kuchen? Für mehr Bier? Oder gar für mehr Wein?

© SZ vom 14.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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