Al Gore vor den "Live Earth"-Konzerten:Unerbittlich tickt die Uhr

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In zehn Jahren ist alles zu spät: Die Erderwärmung stellt die Menschheit vor eine epochale spirituelle Herausforderung. Doch wir streiten immer noch.

Al Gore

Die Menschheit ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Die Vorstellung, dass wir in unserer Eigenschaft als Spezies tatsächlich bewusst eine Wahl treffen können, ist neu, und wir mögen sie belächeln. Doch es hilft nichts: Genau das ist die große Herausforderung, die vor uns liegt. Unsere Heimat - die Erde - ist in Gefahr. Dabei ist nicht der Planet selbst von Zerstörung bedroht, sondern die Bedingungen sind es, die ihn für uns Menschen bewohnbar machen.

Überschwemmung in New Orleans nach dem Hurrikan Katrin im Jahr 2005. (Foto: Foto: AFP)

Ohne uns der Folgen bewusst zu sein, haben wir einst begonnen, die dünne Schicht der Erdatmosphäre mit so viel Kohlendioxyd zu belasten, dass wir dadurch den Wärmehaushalt zwischen Erde und Sonne veränderten. Wenn wir nicht sehr schnell damit aufhören, werden wir erhöhte Durchschnittstemperaturen bekommen, wie es sie historisch noch nie gegeben hat. Mit der günstigen Klimabalance, von der unsere Zivilisation abhängt, wird es dann vorbei sein.

Während der vergangenen 150 Jahre haben wir immer schneller immer größere Mengen Kohlenstoff aus dem Boden zu Tage gefördert - meist in Form von Kohle oder Erdöl -, und wir verbrennen diesen in einer Weise, durch die jeden Tag 70 Millionen Tonnen CO2 in die Erdatmosphäre ausgestoßen werden.

Die C02-Konzentration, die während mehr als einer Million Jahre 300 ppm (300 Teile je einer Million) nie überschritten haben, sind von 280 ppm zu Beginn des Kohlebooms auf 383 ppm in diesem Jahr gestiegen. Viele Wissenschaftler warnen deshalb, dass die Erde sich aufgrund dieser Tatsachen verschiedenen "Kipppunkten" nähert. Bereits innerhalb der nächsten zehn Jahre könnte es so weit sein, dass die Bewohnbarkeit des Planeten so weit abgenommen hat, dass der Schaden irreparabel ist.

Just in den vergangenen Monaten haben neue Forschungen gezeigt, dass das Eis am Nordpol - das dazu beiträgt, den Planeten zu kühlen - beinahe dreimal so schnell schmilzt, als die pessimistischsten Computersimulationen vorhergesagt haben. Wenn wir nicht handeln, könnte das Sommereis dort im Laufe von nur 35 Jahren völlig verschwunden sein. Ähnlich sieht es auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten, nahe des Südpols aus: Wissenschaftler fanden neue Beweise dafür, dass der Schnee in der Westantarktis auf einem Gebiet schmilzt, das so groß ist wie Kalifornien.

Längst haben wir es nicht mehr nur mit einem politischen, sondern mit einem moralischen Problem zu tun - mit einem Problem, das das Überleben der menschlichen Zivilisation betrifft. Es geht auch nicht um eine Frage von links gegen rechts, sondern um eine Frage von richtig oder falsch. Einfach ausgedrückt: Es ist falsch, die Bewohnbarkeit unseres Planeten und die Perspektiven künftiger Generationen zu zerstören.

Am 21. September 1987 erklärte der damalige US-Präsident Ronald Reagan: "Wir sind so besessen von den Kontroversen des Augenblicks, dass uns oft das Bewusstsein dafür fehlt, wie viel alle Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft tatsächlich verbindet. Vielleicht bräuchten wir eine universelle Bedrohung von außen, um dieses Gemeinsame besser zu erkennen. Manchmal beschäftigt mich der Gedanke, wie rasch all unsere Differenzen verschwinden würden, wenn wir von Außerirdischen bedroht wären."

Nun stehen wir - wir alle - vor solch einer universellen Bedrohung. Zwar kommt sie nicht von außerhalb unserer Welt, doch sie ist von kosmischem Ausmaß.

Schon diese Geschichte zweier Planeten sollte uns zu denken geben: Die beiden Planeten Erde und Venus sind beinahe gleich groß und haben fast dieselbe Menge Kohlenstoff. Im Unterschied zur Erde aber, deren Kohlenstoff größtenteils im Boden steckt, wo er durch verschiedene Lebensformen im Laufe von fast 600 Millionen Jahren abgelagert wurde, befindet sich auf der Venus der größte Anteil von Kohlenstoff in der Atmosphäre.

Das Ergebnis: Während die durchschnittliche Temperatur auf der Erde angenehme 15 Grad Celsius beträgt, ist es auf der Venus 464 Grad Celsius heiß. Zugegeben, die Venus ist näher an der Sonne als die Erde, doch dies ist nicht der Hauptgrund für die Temperaturdifferenz. Im Schnitt ist es auf der Venus drei Mal so heiß wie auf dem Planeten Merkur, der sich noch näher an der Sonne befindet. Ausschlaggebend ist das Kohlendioxyd.

Die Bedrohung erfordert von uns, dass wir uns im Sinne von Reagans Worten zusammenschließen und das Band erkennen, das uns als Menschen eint.

Wenn das Wohl unseres Planeten davon abhinge, wie ich bin und was ich tue, wie wäre ich dann, und was würde ich tun? Lesen sie hier weiter.

Kommenden Samstag will ein Live-Earth-Konzert auf allen sieben Kontinenten auf den Beginn einer drei Jahre dauernden Kampagne aufmerksam machen: Dadurch soll jeder auf unserem Planeten erfahren, wie wir der Klimakrise rechtzeitig begegnen können, um eine Katastrophe abzuwenden. Jeder Einzelne ist Teil der Lösung. Oder um es mit dem großen Architekten Richard Buckminster Fuller auf den Punkt zu bringen: "Wenn Wohl und Wehe unseres Planeten davon abhingen, wie ich bin und was ich tue, wie würde ich dann sein, und was würde ich tun?"

Der pinke Pop-Präsident: Al Gore in den Studios von MTV. (Foto: Foto: Getty)

Die Organisation von Live Earth will eine Antwort auf diese Frage geben, indem sie alle Besucher und Zuhörer des Konzerts bittet, ein persönliches Versprechen zu unterschreiben, welche Schritte man zur Bekämpfung des Klimawandels konkret unternehmen möchte. (Nähere Einzelheiten über dieses Versprechen sind unter algore.com zu finden).

Das Handeln Einzelner ist aber auch notwendig, um den Regierenden Anstoß und Vorbild zu sein. Hier kommt den Amerikanern eine besondere Verantwortung zu. Während des größeren Teils unserer kurzen Geschichte haben die Vereinigten Staaten eine moralische Vorreiterrolle in der Welt gespielt. Die Anerkennung der Bill of Rights, die Gestaltung der Demokratie durch die Verfassung, der Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg, der Sturz des Kommunismus und die Mondlandung - all diese Leistungen zeugen von amerikanischer Gestaltungskraft.

Die Amerikaner müssen sich deshalb auch hier zusammenschließen und ihre Regierung dazu bringen, die globale Herausforderung anzunehmen. Dass Amerika im Kampf gegen den Klimawandel eine Führungsrolle einnimmt, ist eine Voraussetzung für dessen Erfolg.

Wir sollten uns auf die Chancen konzentrieren

Die Vereinigten Staaten müssen sich im Laufe der kommenden zwei Jahre einem internationalen Abkommen anschließen, das den Abgasausstoß, der zur Erderwärmung führt, in den Industrieländern um 90 Prozent und in der übrigen Welt um mehr als die Hälfte reduziert: Dies muss so rechtzeitig geschehen, dass die kommende Generation eine intakte Erde übernehmen kann.

Ein solches Abkommen würde den Beginn neuer Anstrengungen kennzeichnen. Ich bin stolz auf meine Rolle während der Regierung Clinton, für die ich die Verhandlungen über die Kyoto-Vereinbarung geführt habe. Doch das Kyoto-Protokoll wurde in den Vereinigten Staaten inzwischen so verteufelt, dass es dort wohl nie mehr ratifiziert werden kann. Ähnlich erging es einst der Carter-Administration, die 1979 keine Zustimmung für die Ratifizierung eines erweiterten Abkommens zur Abrüstung strategischer Waffen bekommen konnte. Die Verhandlungen für ein strengeres Klimaschutzabkommen werden alsbald beginnen.

So wie damals Präsident Reagan das Salt-Abkommen (Strategic Arms Limitation Treaty) verändert und umbenannt hat in START (Strategic Arms Reduction Treaty), nachdem er verspätet dessen Notwendigkeit erkannt hatte, genauso wird der kommende US-Präsident sich unverzüglich auf den raschen Abschluss eines neuen und noch rigoroseren Klimaschutzpaktes konzentrieren müssen. Die USA sollten sich zum Ziel setzen, dieses globale Abkommen spätestens 2009 abzuschließen - und nicht bis 2012 zu warten, wie es derzeit geplant ist. Schließlich handelt es sich um einen planetaren Notfall.

Gewiss, auch ein neues Abkommen wird unterschiedliche Verpflichtungen enthalten. An die einzelnen Länder werden verschieden hohe Anforderungen gestellt werden, je nach ihrem jeweiligen Beitrag zu dem Problem und ihren Fähigkeiten, sich an der Belastung zu beteiligen. Dieses Muster ist fest etabliert im internationalen Recht, und es gibt keinen anderen Weg.

Die Kinder dürfen von uns höhere Anstrengungen erwarten

erwartenGleichwohl werden einige versuchen, eine solche Lösung zu attackieren, und mit fremdenfeindlichen oder nationalistischen Argumenten verlangen, dass jedes Land dieselben Normen einzuhalten habe. Doch sollten Länder mit nur einem Bruchteil des Bruttoinlandsproduktes der großen Industriestaaten - Länder, die obendrein in der Vergangenheit nur wenig zur Entstehung der globalen Klimakrise beigetragen haben - tatsächlich dieselbe Belastung tragen wie etwa der größte Verursacher, die Vereinigten Staaten? Schreckt die Amerikaner diese Aufgabe so sehr, dass sie nicht imstande sind, ihrer Verantwortung gerecht zu werden?

In jedem Fall haben alle Kinder dieser Welt das Recht, von uns höhere Anstrengungen zu verlangen, wenn ihre Zukunft - ja, die Zukunft der gesamten menschlichen Zivilisation - in der Waagschale liegt. Sie haben Besseres verdient als eine Regierung wie die amerikanische, die hervorragende wissenschaftliche Beweise zensiert und aufrichtige Wissenschaftler schikaniert, die vor der drohenden Katastrophe warnen. Sie verdienen aber auch in anderen Ländern Besseres als Politiker, die die Hände in den Schoß legen und nichts unternehmen angesichts der größten Herausforderung, vor die sich die Menschheit je gestellt sah.

Statt zu klagen, sollten wir uns stärker auf die Chancen konzentrieren, die diese Herausforderung bietet. Wenn die Unternehmen entschlossen genug vorgehen, um die enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, die eine saubere Energie der Zukunft bietet, werden ohne Zweifel neue Arbeitsplätze und Gewinnmöglichkeiten entstehen.

Allerdings gibt es noch Wertvolleres zu gewinnen, wenn wir das Richtige tun. Die Klimakrise gewährt uns das Privileg einer Erfahrung, die nur wenige im Laufe der Geschichte machen durften: Sie stellt uns vor eine gemeinsame Aufgabe, die Generationen verbindet, sie lässt uns für ein hehres, faszinierendes Ziel und für eine gemeinsame Sache eintreten und sie schenkt uns das berauschende Gefühl, allen kleinlichen politischen Zank - gezwungen durch die Umstände - beiseiteschieben zu können, um mit offenen Armen diese epochale moralische und spirituelle Herausforderung anzunehmen.

Al Gore war Vizepräsident der USA von 1993 bis 2001. Er ist Vorsitzender der Alliance for Climate Protection; sein neuestes Buch "The Assault of Reason" ist soeben erschienen. Pro Sieben zeigt seinen oscarprämierten Film "Eine unbequeme Wahrheit" am Samstag, 20.15 Uhr. Deutsch von Eva Christine Koppold

© SZ vom 6.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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