20. Jahrhundert:Die Obsessionen liefen parallel

Lesezeit: 3 min

Wenn die Ehefrau "strindbergelt": Lion Feuchtwangers erst jetzt veröffentlichte Tagebücher zeigen, dass es die Angst vor dem leeren weißen Blatt für ihn offenbar nie gegeben hat. Er schrieb völlig hemmungslos.

Von Helmut Böttiger

In diesem Buch gibt es auffällig viele Auslassungszeichen. Der Grund dafür wird in einer Notiz der Herausgeber genannt, die das Zeug hat, in die Geschichte der Editionsphilologie als besonders feinziselierte Fußnote einzugehen. Sie sei deshalb zitiert: "In Bezug auf LFs intime Kontakte blieb die erste Erwähnung einer neuen Beziehung grundsätzlich erhalten, im Weiteren aber nur dann, wenn ihr eine übergeordnete Aussage zukommt und sie keine bloß gewohnheitsmäßige Notierung darstellt. Als Beispiel: Von rund 750 erwähnten 'gevögelt' finden rund 100 Aufnahme, von rund 650 'gehurt' 40."

Das Buch hat im vorliegenden Zustand immer noch 639 Seiten, und man fragt sich, was die Kriterien für eine "übergeordnete Aussage" sind. Als "gewohnheitsmäßige Notierung" kommen auch etliche der abgedruckten in Betracht. Bei alldem ist nicht zu vergessen: Lion Feuchtwanger, der von 1884 bis 1958 lebte, war der erfolgreichste deutschsprachige Autor seiner Zeit. Thomas Mann schaute immer wieder neidisch auf dessen Auflagenhöhen. Das Besondere war, dass sich Feuchtwangers Erfolg erst auf dem Umweg über die USA in Deutschland einstellte. Er war eben enorm "readable", das hatte im angloamerikanischen Raum schon immer höchste Priorität.

Feuchtwangers Tagebuch beginnt 1906, als der gebürtige Münchner ein Auswärtssemester in Berlin absolvierte, und es hat wenig mit dem zu tun, was man sich gemeinhin unter dieser Art von Schreiben vorstellt. Es sind kaufmännisch anmutende Einträge, oft nur in Stichworten, ohne längere Ausführungen oder der Entwicklung eines Gedankens. Es wird kurz festgehalten, wen Feuchtwanger am jeweiligen Tag getroffen hat und wo er war, dazwischen notiert er auch mal Bücher, die er gerade liest, oder nennt kommentarlos eigene Projekte. Seine spezifische Sexualstatistik fügt sich nahtlos ein und beansprucht den meisten Platz.

Dass die Jahre in den USA fehlen, könnte an der Sekretärin liegen, die gleichzeitig eine Geliebte war

Die Kladden mit seinen Tagesnotizen wurden eher zufällig erst im Jahr 1991 gefunden, bei der Wohungsauflösung seiner letzten Sekretärin. Der Verfasser verwandte die kaum entzifferbare Gabelsberger Kurzschrift, was auf höchste Geheimhaltungsstufe schließen lässt. Längst nicht alle Tagebücher sind erhalten, es gibt jahrelange Lücken. Die letzten Eintragungen stammen aus dem Jahr 1940, vor der Deportation in ein südfranzösisches Lager. Für die Zeit der Emigration in den USA liegt der Verdacht nahe, dass die betreffenden Hefte von seiner letzten Sekretärin, die ebenfalls eine Geliebte war, vernichtet wurden. Man bekommt keine Vorstellung von Feuchtwangers literarischen Fähigkeiten, und verblüffenderweise erhält seine Person kaum differenzierte Züge. Nur indirekt entsteht eine Art Soziogramm der Schwabinger Bohème vor und nach 1914 und der Revolutionszeit in München 1918/19. Auch das Milieu eines assimilierten, deutsch-jüdischen Großbürgersohns wird allenfalls in Umrissen erkennbar. Auffällig ist, dass Freuds Analyse des Triebverzichts und der Sublimation auf Feuchtwanger nicht im geringsten zuzutreffen scheint. Er verkehrte zwar oft mit Prostituierten, aber daneben auch mit unterschiedlichsten weiblichen Personen aus dem Künstermilieu. Seine ausschweifenden sexuellen Aktivitäten und die manische literarische Produktion schienen sich gegenseitig zu befeuern, die Obsessionen liefen parallel. Die Angst vor dem leeren weißen Blatt hat es für Feuchtwanger offenkundig in keinem einzigen Moment gegeben, er schrieb völlig hemmungslos, mit einer gewaltigen Produktivität: anfangs für Zeitungen, vor allem Theaterkritiken, danach in Rekordzeiten dicke Romane.

Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist zwar präsent, aber dass sich Feuchtwanger beispielsweise im Sommer 1918 mit Tripper angesteckt hatte, beschäftigte ihn weit mehr als das Ende des Ersten Weltkriegs. Am 7. November heißt es dann: "Die Revolution bricht los. Sie etwas besichtigt." Auch jetzt interessiert sich der Autor viel mehr für die Verhältnisse im Theater und wie er sich hier am besten positionieren könnte. Er gelangt in diesen Jahren schnell zu einem beträchtlichen Einfluss. Am 2. April 1919 findet sich der Eintrag: "Ein junger Mensch bringt ein ausgezeichnetes Stück. Bert Brecht." Und zwei Tage später: "Ein anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: 'Baal'."

Die "Torggelstube" wird als häufiger Treffpunkt genannt, und wie beiläufig hat Anfang der 30er-Jahre in Berlin der "Literat Benjamin" einen Auftritt als Statist. Viel erfährt man über die literarische Szene nicht, obwohl einige interessante Namen fallen. Umso spannender ist das, was über Intimität und Alltag aufscheint. Feuchtwanger heiratete standesgemäß, und wie seine Ehefrau Marta mit den Neigungen ihres Mannes umging, ist eines der großen Geheimnisse dieses Tagebuches. Ein Eintrag wie derjenige vom 17. Dezember 1918 lässt viele Interpretationen zu: "Marta hält mir vor, ich hätte doch auch Vorteile von der Ehe, da sie Geld mit in die Ehe gebracht habe. Die Kresse da. Mit ihr sehr gehurt. Sie ist sehr reizend. (Marta hat übrigens alles sehr hübsch vorbereitet.)"

Diese Mischung aus dem überkommenen Rollenbild einer verständnisvollen Ehefrau und einem Leben der Bohème ist charakteristisch. Dass Marta sich auch schadlos gehalten hat, lässt sich ahnen: im Winter hält sie sich regelmäßig wochenlang allein zu "Skiferien" in Österreich auf. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sie gelegentlich "strindbergelt", wie der Ehemann recht süffisant für sich formuliert. In den ersten sechs Jahren der Emigration in Frankreich gibt es kaum Veränderungen. Da zeigen sich bei allen bürgerlichen Gesellschaftsriten viele Züge eines ausschweifenden Kommunelebens. Für Kultursoziologen gibt dieses fragmentarische Tagebuch Lion Feuchtwangers einiges her. Und besonders die Leerstellen haben es in sich.

Lion Feuchtwanger : Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Hg. Von N. Holdack, M. Schuetze-Coburn und M. Ullmann. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 639 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: