Geschichtsunterricht:Kreuzzüge: zwei Stunden

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Erst kürzlich schlug Sachsens Ministerpräsident Tillich vor, Geschichtsunterricht in der Oberstufe zur Pflicht zu machen. Ein Leser sieht das als typische Reaktion und meint, man müsse erst klären, was Geschichtsunterricht eigentlich leisten soll.

"Das große Durcheinander", 10. Juni:

Der Geschichtsunterricht ist immer für einen aufgeregten Zwischenruf gut. Die kulturpessimistische Klage über den Verlust historischer Bildung, die bildungsbürgerlich bemängelten Wissenslücken, das pädagogische Entsetzen über stures Faktenlernen oder die staatsbürgerliche Sorge über das Abdriften von Jugendlichen in rechtsradikale Milieus - wie gerade wieder im grundsätzlich zu begrüßenden Vorschlag des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, Geschichte zum Pflichtfach in der Oberstufe zu machen.

Dies offenbart über den konkreten Fall hinaus ein grundsätzliches Problem, mit dem Geschichtslehrkräfte und Geschichtsdidaktiker konfrontiert sind: Wie kaum ein anderes Fach ist Geschichte, auch wenn es, wie Joachim Käppner zurecht feststellt, ausgedünnt, ja abgeschafft wird, nicht nur der Beobachtung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt, sondern wird, da ja jeder historisch interessierte Laie zugleich ein Experte für historisches Lernen in der Schule ist, mit mitunter schwer zu vereinbarenden Forderungen konfrontiert.

Dabei gerät der Alltag des Geschichtsunterrichts aus dem Blick: Geschichte beansprucht zum einen als "kleines" Fach, das bestenfalls - und auch nicht in allen Jahrgangsstufen - zweistündig unterrichtet wird, deutlich weniger als zehn Prozent der Unterrichtszeit; es hat zum zweiten aufgrund der curricularen Vorgaben für bestimmte Themen nur einzelne Stunden und für manche Epochen nur wenige Wochen zur Verfügung; und es bleibt daher zum dritten oft nur wenig Zeit für Wiederholung und Vertiefung, schlicht: für nachhaltiges Lernen. Die Erwartungen können, wenn diese realen Lernbedingungen zur Kenntnis genommen werden, nur bescheiden sein. Was soll ein Jugendlicher am Ende seiner Schulzeit über die Kreuzzüge wissen, wenn sie zum Beispiel in der siebten Jahrgangsstufe nur in zwei Geschichtsstunden vorgekommen sind?

Der Geschichtsunterricht ist deshalb, wie es im Artikel heißt, "unzureichend", weil zu viel und zu viel Verschiedenes von ihm erwartet wird. Wollte man dies ändern, müsste man sich darüber verständigen, was historisches Lernen leisten soll und kann, sowie darüber diskutieren, welche Themen nach welchen Kriterien auszuwählen sind - und welche verzichtbar. Die dann vernehmbaren empörten Zwischenrufe mag man sich gar nicht vorstellen. Prof. Ulrich Baumgärtner, Gauting

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© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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