Gene:Die gefährliche Neuvermessung des Menschen

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Der eine macht Abitur, der andere nicht: Hat das etwas mit den Genen zu tun? Der ewige Streit, wie sehr den Menschen einerseits die Biologie, andererseits die Umwelt prägt, bewegt auch die Leser.

Was bewirken die Gene, was bewirkt die Umwelt? Dieser Streit spiegelt sich auch im Roman „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner. (Foto: ARD/SWR/Hendrik Heiden)

"Die Abitur-Gene" und " Bin ich dumm?" vom 13. November sowie "Finstere Herzen" und " Vermessung des Bösen" vom 14. November:

Absage an Sozialisationstheorie

In einer Reihe von "Wissen"-Beiträgen berichtet die SZ über eine antiaufklärerische Verschiebung des sozialwissenschaftlichen Koordinatensystems. Robert Plomin ("Blueprint. How DNA Makes Us Who We Are") argumentiert, dass menschliche Intelligenz fast ausschließlich erblich bedingt sei. Das zuständige Intelligenz-Gen wurde noch nicht aufgespürt; stattdessen liefert Plomin ein mit vagen Verweisen auf "Zwillingsstudien" versehenes spekulatives Narrativ über die Gründe für die Bildungs- und Persönlichkeitsunterschiede von Menschen verschiedener sozialer Herkunft. Er subsumiert umweltbedingte Aspekte ("nurture") unter die "genetischen" Ursachen ("nature"), weil er davon ausgeht, dass sozial bessergestellte Eltern ihren Erfolg ihren Genen verdanken. Diese Absage an die Sozialisationstheorie birgt politischen Sprengstoff.

Trotz seiner eigenen Erfahrung gezielter Förderung außerhalb des bildungsfernen Elternhauses (Youtube-Interview "The Life Scientific") propagiert Plomin, der in den 1990ern auch die rassistischen Thesen von Herrnstein/Murray in "The Bell Curve" (1994) verteidigte, eine Theorie, die der Bildungsförderung sozial schwächerer Kinder den wissenschaftlichen Boden entzieht. Die lebens- und kulturwissenschaftlich vielfach bestätigte Erfahrung, dass das Lebensumfeld einen signifikanten Anteil an Persönlichkeitsbildung, Intelligenz und Erfolg hat, wird durch die Biologisierung von "nurture" radikal infrage gestellt. Neben dem Fehlen empirischer Beweise stellen sich methodische Fragen: Welche "Zwillingsstudien" von in den 1990ern Geborenen könnten unter heutigen moralischen Bedingungen radikal unterschiedliche lebensweltliche Umstände herstellen, um damit die Permanenz genetischer Veranlagung und die Wirkungslosigkeit von Umweltfaktoren zu belegen? Dient der pauschale Verweis auf Zwillingsstudien etwa als Schibboleth, um empirische und methodische Mängel zu kaschieren?

Die Konsequenz solcher Forschungen - die Abschaffung von Maßnahmen zur Chancengerechtigkeit - verhöhnt die Lebensleistung Zehntausender Menschen aus "hereditär" unterprivilegierten Gruppen, deren Bildungsbiografien der stärkste Beleg für die Fehlerhaftigkeit von Plomins Thesen sind. Die empirisch unbelegte Biologisierung sozialer Differenz ist ein gruseliger Wiedergänger sozialdarwinistischer Ideen. Auch das sogenannte Böse wird neu essenzialisiert und auf den D-Faktor (1-5) reduziert, einen "dunklen Kern" der Persönlichkeit, einen "Quotienten der Niedertracht". Der testbasierte Wert könne zum Beispiel hilfreich bei der "Personalauswahl" sein, offenbar auch ohne vorliegende Straffälligkeit. Vor 100 Jahren musste man noch kein Verbrecher- oder Intelligenz-Gen suchen; da vermaß man die menschlichen Schädel, um herauszufinden, wer sein Leben am Swimmingpool und wer es tütenklebend im Heim für Schwachsinnige verbringen würde. Die Essenzialisierung menschlicher Destruktivität und Intelligenz bewirkt die Abwendung von einer aufgeklärten Bildungspolitik und dient zur Legitimierung einer Politik der sozialen Ausgrenzung. Die fetten Jahre sind vorbei. Soziale Kälte und Konkurrenz um die Fleischtöpfe werden wissenschaftlich vorbereitet. Die Geschichte hat gezeigt, wohin das führt.

Die Life Sciences (und die SZ) täten gut daran, derart antihumanistische Fantasien einer scharfen Kritik zu unterziehen.

Prof. Gesa Mackenthun, Rostock

Ohnehin alles relativ

Für die Erkenntnis, dass "nicht jeder alles werden kann", braucht es weder Gehirnforschung noch Vergleichstests. Da reicht ein Blick in die gesellschaftliche Realität: Es gibt nun mal nur eine/n Bundeskanzler/in, ein paar Tausend Bankdirektoren, Chefärzte oder Erzbischöfe usw. sowie einen sehr großen Rest eher weniger gut dotierter Berufe. Auf diese fix und fertige Berufshierarchie müssen sich die Schulabsolventen verteilen; sie ergibt sich in keiner Weise aus ihren Qualifikationen; und selbst auf deren Anforderungen und Erfolgskriterien haben die Schüler keinen Einfluss: Welche Schulformen es gibt, ist gesetzlich geregelt und nicht genetisch. Ein "Abitur-Gen" gibt es ebenso wenig wie ein Bachelor-Gen. Was in welcher Zeit an Unterrichtsstoff zu bewältigen ist, geben die Lehrpläne vor. Was die Leistungen des Einzelnen, in Schulnoten gemessen, für sein Fortkommen wert sind, hängt von der Zahl (und den Noten) der Mitschüler usw. ab, ist also schon wieder sehr relativ.

Und so geht es weiter: Kaum gibt es mehr Abiturienten als Studienplätze, ist das Abitur nur noch die Hälfte wert; und was wiederum das Examen taugt, steht und fällt mit der Zahl der Mitbewerber und mit der Konjunktur, dem Strukturwandel, also - da schließt sich der Kreis - mit den gerade angebotenen Stellen. Dass sich in der Berufshierarchie die vielen individuellen Fähigkeiten spiegeln würden, ist also eine komplett irrige Vorstellung. (Dass mancher, der "es" geschafft hat, das gern seinen vorzüglichen Qualitäten zuschreibt, steht auf einem ganz anderen Blatt.)

Welcher Stellenwert bleibt da noch für die Gen-Umwelt-Debatte? Ihr Anhaltspunkt ist die Tatsache, dass zwar die Berufshierarchie vorgegeben ist, nicht jedoch, wer in ihr auf welchem Posten (oder auch auf gar keinem) landet. Für dieses Wettrennen, für das es garantiert auch keine genetische Prädisposition gibt, spielen individuelle Unterschiede - soziale Herkunft, Interesse, natürlich auch Begabung (wodurch bedingt auch immer) - dann ihre Rolle. Das sollen sie ja auch: Wie sollte die schulische Selektion funktionieren ohne die in die Notenskala übersetzten Leistungsunterschiede?

Mathias Günther, Hamburg

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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