Atomstrom:Zweifel an der Nachhaltigkeit

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Die EU-Pläne zur Atomkraft lassen SZ-Leser sorgenvoll in die Zukunft blicken: Das sei Greenwashing. Außerdem könnten so Investitionen in die falsche Richtung fließen.

Die EU-Entscheidung könnte Auswirkungen auf die Laufzeit der Atomkraftwerke haben. (Foto: imago images/Future Image)

Zu "Grüner Herzschmerz" und "Ein dehnbarer Begriff" vom 4. Januar, sowie zum Kommentar "Was soll daran grün sein?", zu "Werden Ökofonds bald Atommeiler fördern?" vom 3. Januar und weiteren Artikeln zum Thema:

Kapital für die Atomindustrie

Bravo! Die Lobbyisten des drittgrößten industriellen Sektors der französischen Wirtschaft, der circa 2500 Unternehmen umfasst und 220 000 Arbeitnehmer beschäftigt, die Rede ist von der dortigen Atomindustrie, haben der EU-Kommission erfolgreich Sand in die Augen gestreut.

Worum geht es? Investitionen in Atomkraft und fossiles Erdgas sollen als "nachhaltig" klassifiziert werden. Damit soll frisches Kapital in die hoch verschuldete französische Atomindustrie gelenkt werden, die dieses dringend benötigt: Allein der Konzern EDF steht nach Angaben der Nachrichtenorganisation Politico mit rund 41 Milliarden Euro in der Kreide. Offenbar gilt auch hier der Grundsatz: too big to fail.

Was bitteschön ist an Atomenergie "nachhaltig"? Zwar wird bei der Produktion von Kernenergie CO₂ nicht direkt freigesetzt. Wird aber bei dieser Berechnung die Erschließung und der Abbau von Uran, dessen Weiterverarbeitung, der Bau der Kernkraftwerke, die Verarbeitung des Mülls und der Bau von Lagerstätten für den hoch radioaktiven Abfall mit eingepreist?

Atomkraftwerke sind in Zeiten des Klimawandels keine sicheren Anlagen: Im heißen Sommer 2003 musste das elsässische Atomkraftwerk Fessenheim behelfsmäßig durch Wasserberieselung von außen gekühlt werden, weil im Inneren eine kritische Temperatur von über 48 Grad Celsius erreicht war. Danach erklärten die Verantwortlichen, dass es sich um einen "Test" gehandelt habe. Bei steigenden Temperaturen durch den Klimawandel dürften Flüsse zu wenig und zu warmes Wasser führen, um die erforderliche Kühlung der Atomkraftwerke zu sichern.

In Japan beabsichtigt die Regierung, eine Million Tonnen kontaminiertes Wasser, das sich infolge der Reaktorkatastrophe von Fukushima ansammelte, ins Meer zu "entsorgen". Atomenergie ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie, dies scheinen ihre Befürworter trotz der Großkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima zu ignorieren. Dass bei der Produktion von Kernenergie hochgefährlicher strahlender Müll generiert wird, der für extrem lange Zeit das Leben auf unserem Planeten bedroht, soll jetzt "nachhaltig" sein? Sollte die Taxonomie-Verordnung in der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Form umgesetzt werden, ist dies ein unanständiger Etikettenschwindel und wird die Politikverdrossenheit der Bürger weiter befördern.

Sabine Albrecht, Marburg

Die Realität ist nicht Bullerbü

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe diese Ampel-Koalition gewählt, bin ein Fan der Solarenergie und habe schon vor 25 Jahren meine erste Anlage installiert. Und ich war von Anfang an gegen die Kernenergie: Wyhl, Fessenheim, Malville - dagegen haben wir in Freiburg seit 1975 protestiert. Aber die Energiewelt im Jahr 2022 ist eine andere: Reihenweise werden gerade Strom- und Gasverträge gekündigt, weil die Energiediscounter die explodierenden Preise an der Energiebörse nicht mehr bezahlen können, weswegen ihre Kunden jetzt zu Bittstellern beim jeweiligen Grundversorger werden, der sie dann gnädigerweise zum doppelten Tarif über-nimmt.

Der Ausbau der Erneuerbaren stockt, während gleichzeitig der Verbrauch elektrischer Energie mit staatlicher Förderung vervielfacht wird. Selbst bei hundertprozentiger Stromversorgung durch Wind und Sonne hätten wir immer noch das Problem einer "Dunkelflaute" in Deutschland, in der es eine grundlastfähige Energieversorgung bräuchte. Wir haben es zwar geschafft, in dreißig Jahren den Anteil der Erneuerbaren an der Primärenergie von einem auf 17 Prozent zu steigern, aber im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir immer noch zu 83 Prozent von fossilen Energieträgern beziehungsweise Kernenergie abhängen. Steigen wir wie vorgesehen daraus aus, gibt es derzeit nur zwei realistische Szenarien: abnehmende Versorgungssicherheit, wovor zuletzt die Chefs von Eon und Siemens in Interviews gewarnt haben, oder vermehrter Import.

Um unser grünes Gewissen rein zu halten, würden wir uns auf Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Tschechien und Polen verlassen. Das nennt man, glaube ich, Heuchelei.

Jetzt rächt es sich, worüber im letzten Wahlkampf nicht gesprochen wurde: Pumpspeicherkraftwerke, beschleunigter Netzausbau, Diversifizierung der Gasimporte, Einlagerung und Umwandlung von CO₂ statt bloßer Vermeidung ... Insbesondere Norwegen wäre wegen seiner Ressourcen ein attraktiver und zuverlässiger Partner für eine vernünftige Energiepolitik.

Wenn die Dekarbonisierung erste Priorität hat, müssen die Ausstiegsszenarien für Atom und Kohle sofort getauscht werden. Statt Brokdorf und Grohnde könnten Dutzende von Kohlemeilern zuerst vom Netz gehen. Die Risiken der Kernkraft sind in diesem Zusammenhang irrelevant, da sich auch bei einem um zehn Jahre verzögerten Ausstieg nichts daran ändert. Wir haben weder heute noch in zehn Jahren eine Lösung für die Endlagerfrage. Nebenbei gesagt: Von den 18 000 Fukushima-Opfern ist ein einziger den Strahlentod gestorben, alle andern wurden Opfer von Seebeben und Tsunami, womit in Deutschland eher nicht zu rechnen ist. Die Zahl derer, die wegen des überhasteten Atomausstiegs in Deutschland infolge von Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke zusätzlich verstorben sind, wird dagegen auf 20 000 geschätzt.

Wir sollten auch sofort damit aufhören, die steinzeitliche Verbrennung von Holz durch die KfW-Bank zu subventionieren. Eine Tonne Holz produziert bei der Verbrennung 1,8 Tonnen CO₂, was drei Flügen nach Mallorca und zurück entspricht, vom giftigen Schadstoffcocktail und den Feinstaubemissionen ganz zu schweigen. Ich wohne in einem ruhigen Wohngebiet, in dem praktisch jeder Nachbar einen "Wohlfühlkamin" betreibt. Hier haben die Feinstaubwerte im letzten November permanent den Grenzwert der WHO um das Fünf- bist Siebenfache überschritten.

Warum gibt es keine CO₂-Steuer auf Holzverbrennung? Hilft es im heutigen Klimanotstand, wenn das verbrannte Holz früher CO₂ gebunden hat? Trifft das nicht für Erdöl, Kohle und Erdgas auch zu, die allesamt aus Biomasse entstanden sind? Offensichtlich wollen sich die Grünen mit der gut situierten Öko-Bio-Klientel nicht anlegen, es ist ihre Stammwählerschaft.

Und noch etwas: Die Gasversorgung, auf die wir dringend für eine längere Übergangsphase angewiesen bleiben, bis genügend "grüner" Wasserstoff zur Verfügung steht, eignet sich nicht dazu, als außenpolitische Waffe im Ukraine-Konflikt eingesetzt zu werden. Putin mit der Nichtinbetriebnahme von "Nord Stream 2" zu drohen, könnte schnell zum Bumerang werden. "Frieren für die Ukraine" wäre ein sehr unpopulärer Slogan. In der Außenpolitik kann man sich seine Partner nicht aussuchen. Realpolitik in einer Welt von Despoten und zwielichtigen Halbdemokraten statt "Weltinnenpolitik" im globalen Bul-lerbü, das muss die Außenministerin jetzt möglichst schnell lernen.

Harald Müller, Konstanz

Zurück zur Vernunft

Hier zeigt sich, wie weit sich grüne Fantasien in Deutschland von der energiewirtschaftlichen Realität in der Welt entfernt haben. Gleichzeitig aus Kohle- und Kernenergie auszusteigen und dann auch noch Erdgas zum Ausgleich von Windflauten zu verbieten, ist denkenden Menschen außerhalb der alternativen Szene nicht zu vermitteln. Es ist nur gut, dass uns die EU zur Vernunft zurück verhilft.

Dr.-Ing. Frank Leschhorn, München

Sorge vor Angriffen

Die geplante EU-Einstufung der Atomenergie stärkt Präsident Macron als Wortführer der AKW-Befürworter. Die gleichzeitige Duldung von Gas erklärt das monatelange Lavieren der deutschen Politik. Die meisten EU-Staaten setzen auf Atomstrom und bürden Europa höhere Grundstrahlung, erhebliche Risiken und immense Entsorgungskosten auf.

Atomanlagen sind militärische Ziele für Schurkenstaaten und ein Anreiz für Terrorismus. Die Atomlobby freut sich auf Investitionen und die umzingelte Minderheit betet, dass es keine Havarie gibt. Was für eine Umweltposse! Mit klimafreundlicher regenerativer Energie und Gaskraftwerken, die mittelfristig auf Wasserstoff umgerüstet werden, gehen die Lichter auch mit Solar-und Windenergie nicht aus.

Rolf Sintram, Lübeck

Klimaschutz wird ausgebremst

Atomstrom ist weder CO₂-neutral noch nachhaltig. Insbesondere die CO₂-Emissionen, die für die Endlagerung entstehen werden, sind nur schwer absehbar, da es europaweit kein einziges Endlager für zirka eine Million Jahre gibt, noch nicht mal Ideen für konkrete Standorte. Diese Planungen sind eine Bankrotterklärung an die Bewältigung der Klimakrise. Neue Meiler würden enorme Finanzmittel binden, die Netze mit Strom aus Kraftwerken verstopfen und so den Klimaschutz ausbremsen. Wir brauchen ein vollständiges Umlenken jeglicher Investitionen hin zu klimaneutralen und ökologisch nachhaltigen Technologien.

Christa Tast, Stuttgart

Greenwashing schadet

Der Begriff "Nachhaltigkeit" ist bereits heute durch inflationären Gebrauch stark entwertet. Der Gesetzentwurf zur Taxonomie für "grüne" Geldanlagen betreibt gerade das, was er zu verhindern vorgibt, nämlich Greenwashing, also Etikettierung schädlicher Investitionen als nachhaltig.

Ziel ist es ja, Investitionen in Richtung Klimaschutz zu lenken. Atomkraft wäre in diesem Fall eindeutig eine Fehlallokation, wenn sie kostengünstigeren und ungefährlichen Alternativen Geld entzöge. Schließlich kann man jeden Euro nur einmal ausgeben. Die für die Zukunft angepriesenen neuen Mini-AKWs sind gefährlich und kämen als Serienprodukt ohnehin viel zu spät für einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz.

Was die Bedingungen für die Verleihung des "grünen" EU-Siegels betrifft, ist zu befürchten, dass auch hier wieder getrickst wird. Verlangt wird ein "Konzept" für die Errichtung eines Endlagers für hochradioaktiven Strahlenmüll bis "spätestens 2050". Nach Jahrzehnten der Atomkraftnutzung gibt es weltweit noch immer kein Endlager. Auch in Deutschland war der Betrieb von AKWs eigentlich an den Nachweis der "gesicherten Entsorgung" geknüpft. Behörden und Gerichte gaben sich allerdings mit unrealistischen Konzepten zufrieden und bestanden nicht auf einem existierenden Endlager. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich das bei der EU-Taxonomie wiederholt.

Als Anleger und als Finanzanlagenvermittler mit naturwissenschaftlichem Hintergrund beschäftige ich mich seit Jahrzehnten mit der Auswahl von ethisch korrekten Anlageprodukten. Ich habe nicht vor, mir von der EU oder wem auch immer vorschreiben zu lassen, was ich als "nachhaltig" einzustufen habe. Atomkraft ist es jedenfalls nicht - da sind sich meine Anleger beziehungsweise Anlegerinnen und ich einig.

Dr. Eduard Belotti, Augsburg Geprüfter Finanzanlagenfachmann IHK

Treibhausgasfreie Energie

Es ist zweifellos vorrangig, alle Mittel und Wege zu suchen, wie der Klimawandel wirklich in letzter Minute noch aufgehalten werden kann. Dazu schließe ich mich der Meinung von Bill Gates an, die er in seinem im November 2020 erschienenen Buch "How to Avoid a Climate Disaster" veröffentlicht hat (Deutsche Ausgabe im Piper-Verlag 2021: "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern - welche Lösungen es gibt und welche Fortschritte nötig sind"). Darin wird betont, dass wir ab dem Jahr 2050 von derzeit weltweit 21 Milliarden Tonnen jährlichen Treibhausgasemissionen auf Dauer nur noch null Tonnen emittieren dürfen.

Dieses Ziel zu erreichen, klingt überehrgeizig, ist aber notwendig. Dazu müssen Investitionen aus Wirtschaft, Finanzwesen und staatlichen Institutionen bis hinab zu den Kommunen in die Forschung und Entwicklung auf allen Gebieten treibhausgasfreier Energieerzeugung gesteckt werden. Auch die Entwicklung neuer Atomreaktortechnik mit hohen Sicherheitsstandards zählt dazu. Ansätze dafür sind vorhanden, sie müssen gefördert werden. Das bedeutet zwar, dass die deutsche Marschrichtung des Ausstiegs aus unseren alten Atomkraftwerken weiterhin richtig ist, aber dass eine pauschale Verdammung machbarer Atomspaltungstechnik zur Energiegewinnung verhindert werden muss.

Insofern, liebe Grüne, nicht zu ideologisch-brokdorfisch weitermachen. Lieber darauf hinarbeiten, dass die Welt in diesen Fragen zusammenarbeitet, auch bei der Atommüllentsorgung. Das erklärt vielleicht den Nicht-Widerstand der Physikerin Angela Merkel gegen den Kommissionsvorschlag, aber es rechtfertigt ihn auch nicht.

Bei der "Taxonomie" müsste die EU-Kommission ihre Vorschläge dahin gehend präzisieren, dass der Weiterbetrieb unsicherer Atomkraftwerke (auch in Frankreich und anderen Ländern) auf keinen Fall staatlich weiter gefördert werden darf, dass jedoch neue Ideen auf diesem Gebiet realisierbar gemacht werden können. Weiterhin auf lange Sicht mit neuen Erdgaskraftwerken zu rechnen, wäre allerdings im Sinne des genannten Null-Tonnen-Ziels abzulehnen.

Friedrich Bertram, Baldham

© SZ vom 13.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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