Workaholics:Die Droge Arbeit

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Wenn Mitarbeiter Überstunden machen, freut sich jeder Chef. Doch manchmal kann die Arbeit zur Sucht werden, die so zerstörerisch ist wie eine Droge.

Julia Bönisch

Reiner S. kann nicht aufhören zu arbeiten. Wenn er die Hände doch mal still hält, dann geht es in seinem Kopf weiter. "Ich liege nachts wach und denke immer darüber nach, was noch zu tun ist. An Schlaf ist gar nicht zu denken", sagt der 57-Jährige.

Reiner S. ist arbeitssüchtig, und doch arbeitet er nicht mehr. Er gilt als erwerbsunfähig, heute ist er Frührentner. Die Arbeitssucht hat ihn kaputt gemacht, dabei vermisst er nichts mehr als seinen Beruf.

Er war Zuschneider in einer Schilderfabrik, doch er kümmerte sich genauso um Kundenbetreuung, Entwicklung oder die Buchhaltung. "Ich hatte immer zu allem Ideen, aber zum Schluss wollte das niemand mehr hören." Dann setzte er seine Projekte eben im Alleingang um. Er kam früher, ließ die Mittagspause aus und ging abends später als alle anderen nach Hause. "Mein Chef hat das gern gesehen", sagt er. "Der war froh, dass sich einer um alles kümmerte."

Jeder Siebte ist tendenziell gefährdet

Oft brachte Reiner S. sogar sein eigenes Werkzeug von zu Hause mit. Seine Garage war inzwischen besser ausgestattet als die Firma. Dass er krank war, merkte er nicht. - Auch nicht, als sich neben dem ständigen psychischen Druck die ersten körperlichen Symptome bemerkbar machten.

Es fing damit an, dass er gar nicht mehr spürte, wenn er während der Arbeitszeit zur Toilette musste. Er verspürte keinen Appetit und bekam rasende Kopfschmerzen, weil er viel zu wenig Flüssigkeit zu sich nahm. Irgendwann sprach ihn ein Bekannter auf sein Verhalten an und schickte ihn zu den Anonymen Arbeitssüchtigen - eine Selbsthilfegruppe, ähnlich den Anonymen Alkoholikern. Zehn Jahre ist das nun her, und noch immer fühlt sich Reiner S. nicht gesund. "Ich bin auf dem Weg dahin. Aber es gibt noch so viele Verhaltensmuster, die ich ganz neu lernen muss."

Wie viele Arbeitssüchtige es in Deutschland gibt, wissen Psychologen nicht genau, denn Arbeitssucht ist bis heute nicht als Krankheit anerkannt. Schätzungen gehen von 200.000 bis 300.000 Menschen aus, die darunter leiden. Jeder siebte Arbeitnehmer gilt als tendenziell gefährdet.

Entscheidend für die Arbeitssucht ist nicht allein das Ausmaß der Überstunden. Im neuen Job, nach einer Existenzgründung muss jeder mal klotzen. Es kommt - wie bei Alkohol und Drogen - auf den Kontrollverlust an. Wenn man ohne den Job nur noch Leere verspürt, dies aber leugnet, dann ist es soweit.

Auslöser für die Arbeitssucht können ganz unterschiedliche Lebenssituationen sein, sagt der Psychologe Stefan Poppelreuter. Doch der steigende Druck auf Mitarbeiter und die hohen Leistungsanforderungen am Arbeitsmarkt haben nur wenig mit dem Phänomen zu tun. "Meist liegt der Grund in der Herkunftsfamilie des Betroffenen", sagt der Sucht-Experte. "Wenn Menschen in einem stark leistungsorientierten Umfeld aufgewachsen sind, haben sie später oft das Gefühl, Wertschätzung nur durch ihre Arbeit zu erfahren."

Zudem haben Workaholics ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis. "Sie benutzen ihre Sucht dafür, ihr Leben zu regulieren. Durch permanente Arbeit gehen sie emotionalen Situationen aus dem Weg." Denn am Arbeitsplatz gelten anders als in Beziehungen klare Hierarchien und Strukturen.

Oft wird gerade dort das Problem nicht ernst genommen, denn Fleiß und Identifikation mit dem Unternehmen gelten als wünschensweit. Doch wenn die Arbeit zur Sucht wird, sinkt die Produktivität des Mitarbeiters. Ein Arbeitssüchtiger oder Workaholic zieht alle Aufgaben an sich, kann nicht delegieren, muss dafür aber ständig kontrollieren. Das Klima im Team verschlechtert sich, bis die ersten kündigen und neue Mitarbeiter gesucht werden müssen. Das kostet Zeit und Geld.

"Eine Familie habe ich ganz vergessen"

Der Workaholic selbst leidet am meisten: Genau wie bei anderen Süchten auch führt die Arbeitssucht zu starken seelischen, körperlichen und sozialen Problemen: Der Vielarbeiter schläft nicht mehr, er leidet unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Magengeschwüren und vernachlässigt Familie und Freunde. Reiner S. hat erst gar keine Familie gegründet. "Das hab ich über allem irgendwie ganz vergessen."

Stefan Poppelreuter empfiehlt Betroffenen, sich zunächst selbst Grenzen zu setzen. "Es braucht Regeln, wie etwa dass man nach zwölf Stunden nach Hause geht und mindestens ein Tag in der Woche für Erholung reserviert ist." Professionelle Hilfe bekommen Workaholics in Selbsthilfegruppen, inzwischen kann man sich deshalb auch stationär behandeln lassen.

Auch Unternehmen können etwas dafür tun, dass der Betroffene das Problem in den Griff bekommt. Stressbewältigungsprogramme, Coaching und konkrete Zielvereinbarungen können genauso helfen wie Rollenanalysen oder körperliche Übungen. Der Arbeitssüchtige muss nur gewillt sein, mitzumachen.

Reiner S. hat sechs Wochen in einer Klinik verbracht. "Ich habe dort gelernt, mir Zwangspausen zu verordnen. Aber Vertrauen in mich und in andere habe ich immer noch nicht."

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