Workaholic:Die Grenze zwischen tüchtig und süchtig

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Wer zu viel arbeitet, wird vom Chef befördert. Die Anonymen Arbeitssüchtigen ringen aber um eine für sie gesündere Einstellung zur Leistung.

Von Markus Verbeet

(SZ vom 25.10.2003) Gleich werden sie wieder in diesem Raum sitzen, in einem Kreis, um eine Kerze, die Vorhänge geschlossen, wie sie es jeden Dienstagabend tun. Doch was sie einander berichten und wer sie sind, bleibt geheim. Der Reporter muss draußen bleiben, das Treffen ist der Öffentlichkeit verschlossen. Die kleine Gruppe lebt davon, nicht erkannt zu werden. Es sind die Anonymen Arbeitssüchtigen Düsseldorfs, die sich einmal pro Woche im Haus des Deutschen Rotes Kreuzes in der Jahnstraße versammeln.

"Man braucht einfach Leute, die das selbst erlebt haben" - Frau vor Aktenbergen. (Foto: Foto: photodisc)

"Eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrungen, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen" - so beschreiben sie sich auf ihrer Internetseite. Wobei ihr gemeinsames Problem bereits damit beginnt, dass die Arbeitswelt ihre Abhängigkeit vielfach gar nicht ernst nimmt. Wer zu viel arbeitet, wird eher befördert als behandelt. Er gilt als tüchtig, nicht als süchtig.

Grenze überschritten

Eine klare Unterscheidung fällt oft schwer. "Die Grenze zwischen einem noch normalen leistungsorientierten Verhältnis zur Arbeit und der Arbeitssucht ist fließend", heißt es im Gesundheits-Brockhaus. Die Teilnehmer an den Selbsthilfe-Treffen jedenfalls glauben, dass sie diese Grenze überschritten haben. Einzige Voraussetzung für die Aufnahme in die Leidensgemeinschaft ist "der aufrichtige Wunsch, mit dem zwanghaften Arbeiten oder Nicht-Arbeiten aufzuhören". Insgesamt 32 Gruppen für Arbeitssüchtige listet die einschlägige Internetseite für den deutschsprachigen Raum auf.

Diese ähneln nicht nur in ihrem Namen, sondern auch im Konzept den Anonymen Alkoholikern. Nach deren Vorbild haben sie sich gegründet, zunächst in den USA und später in Deutschland. Die einzelnen Gruppen treffen sich einmal wöchentlich zum Erfahrungsaustausch. Darüber hinaus gibt es jährlich eine große Versammlung für Deutschland, Österreich und die Schweiz, wie sie am kommenden Wochenende in der Düsseldorfer Jugendherberge stattfindet.

"Genesung durch kleine (Arbeits-)Schritte" lautet das Motto des Jahrestreffens, zu dem auch die Angehörigen der Geplagten eingeladen sind. "Wir erwarten knapp hundert Teilnehmer", sagt einer der Organisatoren - ein Bruchteil der Menschenmasse, die einigen Wissenschaftlern als arbeitssüchtig gilt.

Zu viel oder zu wenig

Die Schätzungen kennen teilweise keine Grenzen. "Nach einzelnen Studien aus den USA sind 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung arbeitssüchtig", sagt Stefan Poppelreuter, "und nach Meinung mancher Wissenschaftler sind wir es alle". Der promovierte Psychologe zählt zu den wenigen deutschen Wissenschaftlern, die sich mit der Arbeitssucht beschäftigen. Poppelreuter hat an der Universität Bonn eine große empirische Studie vorgelegt und auch Mitglieder der Anonymen Arbeitssüchtigen befragt.

Die genannten Annahmen aus den USA hält er für "Mumpitz", aber mit eigenen Schätzungen hält er sich zurück. Solange nicht klar sei, wie Arbeitssucht zu erfassen sei, könne man sich kaum zu Zahlen äußern, meint der Wissenschaftler. "Es wäre wünschenswert, wenn Arbeitssucht als eigenes Krankheitsbild oder als eigene diagnostische Kategorie anerkannt würde wie die Spielsucht", sagt Poppelreuter. "Aber davon sind wir weit entfernt."

Die Anonymen Arbeitssüchtigen jedenfalls haben ein weites Verständnis von Arbeitssucht. Sie nehmen nicht nur denjenigen auf, der sich permanent zu viel Arbeit aufhalst. Arbeitssucht umfasst ihrer Meinung nach auch "das Gegenteil, die Arbeitsvermeidung und das Aufschieben von Arbeit aus Angst vor Misserfolgen und Perfektionismus". Der Gesundheits-Brockhaus hingegen beschreibt Arbeitssucht als "übersteigertes Verlangen nach Arbeit, Leistung und Erfolg, wobei der Bezug zu anderen Lebensbereichen wie Freunde, Familie, Freizeit verloren zu gehen droht".

Völlig fertig

Unter diesem Verlangen könnten in Zukunft immer mehr Menschen in Deutschland leiden. Holger Heide, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen, sieht eine "deutlich zunehmende Tendenz wegen der neuen Formen der Arbeitsorganisation". Mehr Freiheit und Eigenverantwortung bedeuteten vielfach auch mehr Stress, der zu einem Suchtverhalten führen könne.

Schon heute hält Heide nicht weniger als ein Viertel aller Manager und Freiberufler für arbeitssüchtig. Ein wissenschaftlicher Sammelband, den der Professor im vergangenen Jahr herausgegeben hat, heißt "Massenphänomen Arbeitssucht". Im Untertitel ist von einer "neuen Volkskrankheit" die Rede.

Als Therapie hält er die Selbsthilfegruppen für geeignet. "Die Gruppen können einen sehr wichtigen Beitrag leisten, die Isolierung zu durchbrechen", sagt Heide. "Das heißt aber natürlich noch nicht, dass jedem Süchtigen damit geholfen wird." Ähnlich äußert sich der Psychologe Poppelreuter, der die Selbsthilfegruppen als sinnvollen Weg zur Suchtbekämpfung ansieht "neben der klassischen ambulanten Einzeltherapie und der größer werdenden Zahl von spezialisierten Kliniken". Für viele Menschen stellt eine solche Selbsthilfegruppe seiner Ansicht nach eine wichtige Hilfe dar.

Für solche Menschen wie Robert, ein Teilnehmer des Düsseldorfer Treffens, der unter diesem Pseudonym am Telefon einen Einblick in die geheime Runde gewährt. Robert nimmt seit fünf Jahren regelmäßig an den Treffen teil, wie er sagt. "Man braucht einfach Leute, die das selbst erlebt haben", sagt er. Früher habe er auch mal sechzehn Stunden am Stück als Maler gearbeitet, ohne zu essen, ohne zu trinken. "Am Ende war ich völlig fertig, aber die Leute haben mir noch auf die Schulter geklopft." Für ihn ist es eine Überlebensfrage, sich jeden Dienstagabend im Kreis um eine Kerze zu setzen: "Ohne die Gruppe wäre ich längst tot."

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