Weltstrafgericht:Im Namen der Völker

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Der Traum von der Verfolgung der politisch mächtigsten Verbrecher hat Menschen aller Nationalitäten zusammengeführt - gegen den Willen der USA.

Von Stefan Ulrich

Den Haag, im April - Hans-Peter Kaul hat wohl selbst oft daran gezweifelt, ob das Objekt seiner Leidenschaft jemals Form annehmen wird. Nun schreitet der Weltrichter stolz wie ein Bauherr um dieses Ungetüm aus Stahl, Stein und Spiegelglas und scheint den Seewind nicht zu spüren, der ihm den Mantel zaust. "Beachten Sie die schön gegliederte Architektur", sagt er, als gehe es um eine Palladio-Villa, und deutet auf die drei Bürotürme am Maanweg 174 in Den Haag. Sollten Kaul und seine Mitstreiter Erfolg haben, so werden sie am Ende hier landen, die Tyrannen, Kriegsherren und Völkerschlächter aus aller Welt. Denn hier ist der Ort, wo die Menschheit über ihre schlimmsten Peiniger zu Gericht sitzen will.

Nach jahrzehntelangen scheinbar weltfremden Planspielen von Völkerrechtlern entsteht nun in einem Gewerbeviertel der holländischen Hauptstadt das erste ständige Weltstrafgericht der Geschichte. Dabei wurde der Bürokomplex für andere Zwecke gebaut - als Protz-Zentrale einer Telefongesellschaft. Doch nun residieren die Pioniere des Völkertribunals hier, zur Zeit 230 Menschen aus Dutzenden Staaten. Also muss umgerüstet werden. Der Spezialzaun samt Überwachungskameras und Nachtbeleuchtung ist schon fertig, ebenso die Eingangshalle mit den Sicherheitsschleusen. Die Gerichtssäle aber müssen noch gebaut werden. Ein Kran setzt dazu gerade weiße Metallsäulen auf den Boden des ehemaligen Parkplatzes.

Zwischen zwei Klippen

Sollte schon bald ein großer Diktator angeliefert werden, müsste er mit einem Not-Verhandlungsraum vorlieb nehmen. So schnell wird jedoch kein Angeklagter hier hereingeführt werden, schon gar kein großer Diktator. Der einzige fassbare Kandidat wäre Saddam Hussein. Über den aber darf das jüngste Gericht der Staatengemeinschaft nicht urteilen. Schließlich gehört der Irak nicht zu den 92 Staaten, die den Vertrag über das Tribunal ratifiziert haben.

"Wir sind nicht zuständig", bescheidet die Anklage die vielen Anfragen nach Saddam. Der Flurfunk klingt anders. "Die Iraker sind sich einig, dass man Saddam bloß nicht den Amerikanern überlassen darf", heißt es da. "Einige wollen ihm selbst den Prozess machen, andere eine Sonder-Abmachung mit uns, dem Weltgericht, treffen." In der arabischen Welt werde heftig darüber spekuliert. Hierzu passt, dass Saddams französischer Anwalt Jacques Verges bereits angekündigt hat, er wolle den Fall seines Mandanten nach Den Haag bringen. "Wir werden den Teufel tun, da irgendetwas zu forcieren", flüstert ein Gesprächspartner am Tribunal. Dann fügt er genüsslich hinzu: "Sie können sich vorstellen, wie nervös diese Sache die Amerikaner macht."

Der - unwahrscheinliche - Fall Saddam, er verdeutlicht die beiden Klippen, zwischen denen sich Kaul und Co. hindurchlavieren müssen. Da sind zum einen die übersteigerten Erwartungen vieler Menschen in aller Welt. Täglich gehen Briefe und E-Mails ein, mit der Aufforderung, buchstäblich Gott und die Welt vor Gericht zu bringen. Und da sind zum anderen die Feinde des Tribunals, die genau das befürchten: Eine Weltjustiz im Verfolgungswahn, deren Traum es sei, am Ende selbst dem amerikanischen Präsidenten den Prozess zu machen. Besonders die Weltmacht USA ist es denn auch, die das Weltgericht aufs Bitterste bekämpft. Von einem Monster, das es zu erschlagen gelte, hat der Alt-Außenpolitiker Jesse Helms gesprochen. Aus seinem Geist speist sich ein Anti-Gerichtshof-Gesetz, das es dem US-Präsidenten erlaubt, Häftlinge per Militärüberfall aus den Händen des Tribunals zu befreien. Spötter sprechen vom Hague Invasion Act. Die neuen Zäune sind dafür wohl nicht robust genug.

Die Haager Staatsanwälte und Richter werden also viel Fingerspitzengefühl bei der Auswahl ihrer ersten Fälle beweisen müssen, um nicht schon zu Beginn zwischen Freund und Feind unterzugehen. "Dieses Jahr ist entscheidend für den Strafgerichtshof", sagt Hans-Peter Kaul, der als langjähriger Chef-Völkerrechtler im Auswärtigen Amt zu den Wegbereitern des Tribunals gehört.

Nun wirkt er glücklich und nervös zugleich, wie ein Mann, der jahrelang für seine Überzeugung gekämpft hat und sich jetzt kurz vor dem Ziel sieht, aber auch weiß, dass alles plötzlich scheitern kann. "Wir sind wie ein kompliziertes, hoch technisiertes Patrouillenboot", sagt er. "Der Schiffsrumpf ist schon zu Wasser gelassen, doch es fehlt noch die Elektronik und mindestens die Hälfte der Besatzung. Innenausbau und Training der Mannschaft finden auf hoher See statt. Und derweil bemüht sich eine Supermacht, alle Meerengen und Häfen für dieses Schiff sperren zu lassen."

Im Bauch des Bootes, im Speisesaal, klingt der 60 Jahre alte Jurist mit dem Schnurrbart optimistischer. "Noch vor ein paar Jahren hätte kein Mensch gedacht, dass wir heute mit 200 Leuten in einer Kantine sitzen, die von dieser Institution so elektrisiert sind, dass sie aus aller Herren Länder herbeiströmen." Das kann Guido Hildner, der Personalchef in Den Haag, nur bestätigen. "Wir sind kräftig am Rekrutieren und bekommen im Monat 1500 Bewerbungen." Bis zum Jahresende könnte die Besatzung so auf 375Frauen und Männer anwachsen. "Wir brauchen die ganze Palette", sagt Hildner: "Juristen und Kriminalisten, Politologen, Psychologen, Diplomaten, Militärexperten, Ärzte, Computeringenieure, Schreibkräfte, Wachleute." Und natürlich Köche für die Kantine.

Angst vor der Bürokratie

Der große Andrang wundert Hildner nicht. "Für Menschen, die an einer Weltjustiz interessiert sind, ist das hier ein Traum, der wahr wurde - und eine berufliche Krönung." Doch bei aller Aufbruchstimmung in Den Haag: Der Alltag sieht oft anders aus als die hohen Ideale, mit denen sie hier angetreten sind. "Es genügt ja nicht, dass die Leute ankommen", sagt Kaul und blickt auf die bunt-gemischte Menge, die da bei leichter Popberieselung über Bami Goreng oder gegrillten Lachsschnitten sitzt. "Da muss ein Erziehungsprozess stattfinden. Die bringen alle ihr nationales Gepäck mit, und das reicht natürlich nicht." Nun gelte es, aus Menschen mit unterschiedlichsten beruflichen und kulturellen Erfahrungen ein Team zu formen. Das bringe auch Frustrationen mit sich. "Noch schlagen sich diese jungen Leute die Nächte um die Ohren. Aber natürlich besteht auch hier die Gefahr, dass sie abstumpfen und Bürokraten werden."

Die Probleme beginnen bei banalen Dingen, der Roben-Frage etwa. Die 18 Richter konnten sich lang nicht einigen, welche Diensttracht sie sich verordnen sollten. Während die einen für Prunk plädierten, zog Claude Jorda aus Frankreich das tiefe Nachtschwarz der französischen Justiz vor. Die Kompromisslösung fand die Südafrikanerin Navanethem Pillay: dunkelblaue Roben mit hellblauen Ärmelaufschlägen.

Prekärer ist der Streit um die Rechtsstellung der Angeklagten. "Da waren wir kurz vor Mord und Totschlag", heißt es im Tribunal. Während die einen für extrem starke Verteidigungsrechte plädieren, um die Rechtsstaatlichkeit des Tribunals zu unterstreichen, fürchten andere die Reaktionen der Opfer, "wenn Täter unrechtmäßig frei kommen oder zu milde bestraft werden". Immerhin habe man es "mit den schlimmsten Verbrechern auf politischer Ebene zu tun, die auf dieser Welt herumlaufen". Diese Verbrecher würden sich wohl ins Fäustchen lachen, wenn sie erführen, mit welchen Problemen sich das Völkertribunal herumschlagen muss. Andererseits ist auch das wenige Kilometer entfernte Jugoslawien-Tribunal einst belächelt worden - heute wird es auf dem Balkan gefürchtet.

Auch am Maanweg 174 tastet man sich nun an die ersten Menschheitsschurken heran. "Auf unseren Schultern lastet jetzt viel. Wir müssen die Kastanien aus dem Feuer holen", sagt der stellvertretende Chef-Ermittler Serge Brammertz, und mit "wir" meint er das noch kleine Team der Staatsanwaltschaft. Der 42 Jahre alte, hochgewachsene Belgier mit der ränderlosen Brille ist eine der Hoffnungen des Tribunals. In der Heimat war er Generalstaatsanwalt und hat dort, in Brüssel, eine Hochleistungsbehörde aufgebaut. "Er ist eine Lichtfigur", schwärmt ein Bewunderer am Tribunal. Doch gerade verdüstert sich das Gesicht des Ermittlers. Sein Computer verweigert den Dienst. "Ich könnte ein Buch darüber schreiben, was alles nicht klappt", stöhnt Brammertz und trommelt mit seinen kräftigen Fingern auf der Tischplatte.

Seine Ungeduld ist verständlich: Seit bald zwei Jahren ist der Gerichtshof nun schon formal errichtet. Die Welt will endlich Taten sehen. Der Belgier aber hat bislang nur etwa zwanzigErmittler zur Verfügung, von denen die meisten erst in den vergangenen Wochen eingestellt wurden. Dennoch soll bald das erste förmliche Ermittlungsverfahren starten. Brammertz und sein Chef, der Argentinier Luis Moreno Ocampo, haben sich hierfür auf zwei Konfliktherde konzentriert. Auf die Kongo-Provinz Ituri, in der verfeindete Milizen ungestraft die Zivilbevölkerung niedermetzeln. Und auf Norduganda, wo eine obskure Rebellengruppe namens Lords Resistance Army, die Widerstandsarmee des Herren, Tausende Kinder entführt und zu Killern abrichtet.

Ugandas Präsident Yoweri Museveni selbst hat das Tribunal gebeten, sich der Situation im Norden seines Landes anzunehmen - scheinbar eine gute Voraussetzung für Ermittlungen. In Wahrheit beginnen damit die Probleme - denn auch die Armee Musevenis wird schrecklicher Verbrechen verdächtigt. Nun bestehe die Gefahr, dass der Gerichtshof als Hilfstruppe der Regierung in Kampala missbraucht wird, argwöhnen Menschenrechtler. "Wir sind ja nicht naiv", sagt ein Beamter des Tribunals. "Natürlich will uns Museveni instrumentalisieren." Brammertz meint leicht nebulös: "Wir agieren in einem politischen Kontext. Aber wir werden hundertprozentig professionell arbeiten."

Vor allem warnt der stellvertretende Chefermittler davor, dem Weltgerichtshof westliches Denken aufzuzwingen. "Was ich hier gelernt habe ist: Unser Gerechtigkeitsgefühl ist ein ganz anderes als etwa in Afrika. Dort ist die Entschädigung der Opfer viel wichtiger als die Bestrafung der Täter. Und für mich ist Gerechtigkeit das, was von den betroffenen Menschen als Gerechtigkeit empfunden wird." Deshalb will Brammertz für jeden Fall neue gemischte Ermittlungsteams zusammenstellen, die zuallererst einmal die Lage genau abtasten. "Unsere Strategie bleibt, die Haupttäter zu verfolgen."

Tatort Dschungel

Dennoch bleiben Selbstzweifel nicht aus. "Was nützt es, wenn wir einen Warlord entmachten, und dann ein noch brutalerer an seine Stelle tritt", gibt ein hoher Tribunals-Beamter zu bedenken. Die Staatsanwaltschaft habe bereits einige Erkundungsbesuche in Afrika abgestattet und feststellen müssen: "Die Lage ist unglaublich schwierig und komplex." Trotzdem dürften bald die ersten Experten der neuen Weltjustiz ausschwärmen, um im Norden Ugandas Tatorte zu besichtigen, Zeugen anzuhören und auf die Verhaftung der Täter zu dringen. Dabei dürften sie dann auf das wohl größte Problem des jungen Gerichts stoßen. Was tun, wenn niemand bereit ist, einen Rebellenführer aus dem Busch oder einen Regierungsgeneral aus einer Kaserne zu holen, um ihn nach Den Haag zu überstellen? Dann könnte die Glaubwürdigkeit des Völkertribunals schon bei seinen ersten Fällen vernichtet werden.

"Das Problem ist uns klar, aber wir haben noch keine Lösung", gesteht ein hoher Mitarbeiter betreten. Und Brammertz meint: "Wir brauchen die Unterstützung der Staaten." Doch glaubt er wirklich, dass sich Regierungen bereit erklären werden, etwa den Führer der Lord Resistance Army, Joseph Kony, aus seinem Versteck in Norduganda oder im Südsudan herauszuholen? Zumal das Weltgericht, im Gegensatz zum Jugoslawientribunal, nicht auf die Unterstützung des von den USA dominierten Sicherheitsrats der Vereinten Nationen setzen kann?

Serge Brammertz blickt durch die Fenster seines Büros auf die sauberen Reihenhausanlagen, windzerzausten Alleen und krokusbesetzen Grünanlagen Den Haags. Seine Finger beginnen wieder zu trommeln. Dann sagt er leise, wie zu sich selbst: "Wenn uns die UN nicht helfen, dann vielleicht eine europäische Eingreiftruppe oder eine panafrikanische Armee." Der Staatsanwalt spürt den ungläubigen Blick ; er lacht. "Man kann ja träumen. Natürlich ist das hier ein bisschen Mission impossible. Aber das macht gerade den Reiz aus."

© SZ vom 14.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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