Studieren in Polen:Klassiker und Körperkultur

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In Polen müssen Studenten büffeln und ihre Freizeit ist knapp, doch der bevorstehende EU-Beitritt spornt viele an.

Thomas Urban

(SZ vom 5.11.2002) "Wir sind nicht Budapest", lautet die lapidare Antwort im Sekretariat der Medizinischen Fakultät der Universität Warschau auf die Frage, ob Studenten aus dem Westen an der Weichsel ihren Doktor machen wollten. Die ungarische Hauptstadt ist längst Geheimtipp beispielsweise für junge Deutsche, die am Numerus Clausus oder an Eingangstest scheitern würden. Gelehrt wird deshalb auch teilweise auf Englisch. Nicht so in Polen: "Die meisten Westler würden schon an den Aufnahmetests scheitern", heißt es.

Diskussion über die Abifragen

Dozenten auch der philologischen oder der mathematischen Fakultät, die Westerfahrung haben, bestätigen dies: Die Anforderungen seien in Polen von Anfang an sehr viel höher als an den meisten Universitäten in den Ländern der Europäischen Union.

Die Auslese beginnt bereits mit dem Abitur, das wie etwa in Frankreich, zentral organisiert ist: Die Schüler bekommen alle dieselben Aufgaben, im ganzen Land wird am selben Tag zur selben Stunde geschrieben. Die Presse veröffentlicht am nächsten Tag die Aufgaben - und das ganze Land diskutiert darüber.

Das Programm an den Gymnasien läuft auf die Vermittlung von möglichst viel abfragbarem Wissen hinaus; allerdings lernen die Schüler kaum selbstständig arbeiten. Dies ist auch der Grund, warum die jungen Polen bei den Pisa-Tests genauso schlecht wie ihre deutschen Altersgenossen abgeschnitten haben. Wäre allein Wissen gefragt worden, so hätten sie einen Spitzenplatz eingenommen.

Nach dem Abi wieder Tests

Doch mit dem Abitur allein ist es nicht getan. In Polen existiert keine Zentrale zur Vergabe von Studienplätzen. Stattdessen sucht sich jede Fakultät mittels strenger Eingangstests ihre Studenten selbst aus. Dies führt dazu, dass sich viele Abiturienten während der Testphase im Spätsommer gleichzeitig in mehreren Städten bewerben.

Das höchste Ansehen genießen unter Studenten - und deren Eltern - Umfragen zufolge die Jagiellonen-Universität in Krakau, die Warschauer Universität sowie die Katholische Universität Lublin. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass an diesen Universitäten am effektivsten gearbeitet wird. Vielmehr zeichnet sich in Polen wie auch in der Bundesrepublik die Tendenz ab, dass Examina kleiner Universitäten mit einer überschaubaren Anzahl von Studenten in Fachkreisen, auch bei den potenziellen Arbeitgebern, oft höher eingestuft werden als die der traditionsreichen Massenuniversitäten, wie Untersuchungen des Magazins Polityka ergeben haben.

Der aus Wuppertal stammende Linguist Steffen Möller, der seit mehreren Jahren in Warschau vergleichende Sprachwissenschaft lehrt, räumt ein, dass seine Studenten in den ersten Semestern die meisten Arbeitstechniken erst noch lernen müssen, dass sie ihr Studium zwar mit hoher Leistungsbereitschaft, aber in völliger Unselbständigkeit beginnen. "Doch es ist ein unschätzbarer Vorteil, dass sie ein exzellentes Vorwissen haben", sagt Möller. An deutschen Universitäten sei dies bei weitem nicht so.

Fremdsprache ist Pflicht

Im Prinzip ist das Studium weitgehend verschult. Dazu gehören Anwesenheitslisten in den Lehrveranstaltungen ebenso wie über das gesamte Semester verteilte zahlreiche Tests. Manche Professoren lassen sogar Tests über ihre Vorlesungen schreiben, die Studienordnung erlaubt es ihnen. Das Fachstudium ist viel breiter gefächert als in der Bundesrepublik. Wer Jura oder Wirtschaftswissenschaften studiert, muss auch Pflichtveranstaltungen in Geschichte und Philosophie belegen. Fast sämtliche philologische Studiengänge setzen außerdem das große Latinum voraus.

Mathematiker und Physiker müssen Englischkurse bestehen, fast alle Nicht-Philologen müssen eine Fremdsprache als Nebenfach belegen; meist ist dies eben Englisch. Viele lernen eine weitere Fremdsprache, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Besonders hoch im Kurs steht Deutsch, die Sprache des wichtigsten Handelspartners. Auch Russisch, die zu Zeiten der Parteiherrschaft verhasste Pflichtsprache, wird immer häufiger gewählt. Noch vor einem Jahrzehnt verlor sich nur eine Handvoll Studenten in den Russischkursen für Hörer aller Fakultäten.

Pflicht für alle ist außerdem Polnisch. Das heißt, auch der angehende Arzt oder Mathematiker befasst sich noch einmal mit den Klassikern der polnischen Literatur. Obligatorisch ist außerdem Sport, ein Überbleibsel der Idee der kollektiven Körperkultur im Sozialismus. Auch die Studentin der Theaterwissenschaften oder der Student der Biologie müssen sich die Teilnahme an den Trainingsstunden in einem Verein bescheinigen lassen, immerhin ist die Auswahl der Sportart frei.

Elterngeld statt Jobs

Alle diese Pflichtfächer neben dem eigentlichen Hauptstudium führen dazu, dass die Freizeit eines Studenten minimal ist, somit auch die Zeit für Nebenjobs. Ohnehin sind Jobs rar. Da in Polen die Arbeitslosigkeit bereits 18 Prozent erreicht, die Arbeitslosenhilfe aber minimal ist, werden auch schlecht bezahlte Jobs von gewöhnlichen Arbeitnehmern erledigt. Die meisten Studenten leben von den Zuwendungen ihrer Eltern. Etwa ein Drittel bekommt Stipendien. Diese sind strikt leistungsabhängig. Wer ein Seminar oder ein Examen versiebt, spürt dies unmittelbar im Geldbeutel. Und wer nicht zügig studiert, wird sogar zur Kasse gebeten: Vom sechsten Studienjahr an fallen Gebühren an, die sich mit jedem weiteren Semester über der Regelstudienzeit erhöhen.

Polen wäre also ein Paradies für manchen bundesdeutschen Bildungs- und Finanzpolitiker, zumal da es gegen diese harten Studienbedingungen keinen Protest, schon gar keinen Aufruhr gibt. Vielmehr sind sich die Studenten der Tatsache bewusst, dass sie im Gegensatz zu ihren Eltern, deren Zukunft vielfach von Bescheinigungen irgendwelcher Parteifunktionäre abhing, ihr Leben selbst bestimmen können.

Fit für Europa

Für viele ist der bevorstehende Beitritt Polens zur Europäischen Union weiterer Ansporn: Es ergeben sich nämlich Karriereperspektiven, die früher völlig unmöglich erschienen. "Fit für Europa" lautet an vielen Fakultäten die Devise. Die leistungsbereiten jungen Polen werden also eine ernsthafte Konkurrenz für die karrierebewusste junge Generation in den EU-Ländern sein.

Der Alltagsstress scheint aber kaum auf die Stimmung zu drücken. Möller hat festgestellt: "Es gibt hier noch ein richtiges Studentenleben wie zu Zeiten unserer Eltern." Dazu trägt das Kurssystem bei, in dem die Studenten einer Gruppe wie in der Schule mehrere Jahre hinweg zusammenbleiben. Dazu gehört auch der jährliche Kabarettabend jedes Kurses - in der Bundesrepublik eine längst ausgestorbene Art, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu pflegen. Möller sagt: "Die Leute halten zusammen und spornen sich gegenseitig an."

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