Schule:Die schwachen Starken

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Jungs sind in der Schule systematisch benachteiligt. Das wollen Politiker und Pädagogen nun ändern.

Marion Schmidt

"Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter mal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen." Das stand vor genau zwanzig Jahren in der Zeitschrift Emma, und heute, so scheint es, haben die Feministinnen dieses Ziel erreicht. Jungen haben es in der Schule deutlich schwerer als Mädchen. Sie werden vor Schulbeginn häufiger zurückgestellt, sie wiederholen häufiger eine Klasse, sie besuchen weniger häufig Gymnasien und sind dafür an Sonderschulen stärker vertreten, sie verlassen häufiger die Schule ohne Abschluss und machen seltener Abitur als die Mädchen. Und sie werden sogar schlechter benotet, selbst wenn sie gleich gute Leistungen erbringen.

Mitleid mit den Jungs: Schulforscher und Politiker entdecken Schüler als Problemgruppe. (Foto: Foto: AP)

In allen großen Schulleistungsstudien der vergangenen Jahre schnitten die Jungen schlechter ab als die Mädchen, vor allem beim Lesen. Der jüngsten Pisa-Studie zufolge sind 28 Prozent der Jungen beim Lesen so genannte Risikoschüler. Dagegen können nur gut 16 Prozent der Mädchen selbst einfache Texte nicht vollständig verstehen. Deutliche Geschlechterunterschiede beim Textverständnis zeigten auch die Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu und die jüngst vorgestellte Sprachenstudie Desi.

Für Wilfried Bos folgt das eine aus dem anderen. Die schlechteren Lernleistungen erklären sich für den deutschen Iglu-Koordinator und Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung vor allem dadurch, dass es den Schülern im Unterricht so schwer gemacht wird. "Es ist eine systematische Tendenz zur Benachteiligung von Jungen erkennbar", sagt Bos.

Während es an den Schulen längst zahlreiche Förderprogramme für Mädchen gibt, nimmt man Jungenarbeit offensichtlich weniger ernst. Zwar gibt es mittlerweile nach dem Vorbild des Girls Day auch hier und da einen Boys day, doch dabei geht es meistens um die Berufswahl, nicht um den Schulalltag. In der Lehrerausbildung spielt das Thema "geschlechtergerechter Unterricht" keine Rolle. "Viele Lehrer interessiert das Thema auch nicht", sagt Jürgen Budde, Erziehungswissenschaftler und Jungenforscher an der Uni Hamburg, "sie sagen: Ich behandele doch alle gleich."

Das alles soll sich nun ändern. Denn die Schulpolitiker haben die Jungen als besondere Problemgruppe entdeckt - und sie haben Mitleid mit ihnen. Ute Erdsiek-Rave, Bildungs- und Frauenministerin in Schleswig-Holstein und derzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz, will in diesem Jahr einen besonderen Schwerpunkt auf die Geschlechtergerechtigkeit in der Schule legen. "Die Bildungskarrieren von Jungen und Mädchen driften immer mehr auseinander", hat die SPD-Politikerin erkannt. Einerseits würden Jungen zunehmend schlechtere Schulleistungen erbringen, andererseits fielen die Mädchen trotz besserer Schulabschlüsse im Berufsleben ab. Erdsiek-Rave kritisiert, dass es Schulen häufig nicht gelinge, Mädchen und Jungen gleichermaßen zu fördern und den geschlechtsspezifischen Unterschieden gerecht zu werden. Wie dies erreicht werden kann, soll im Herbst auf einer Fachtagung diskutiert werden.

Die Unterschiede werden freilich oft bereits vor der Schule zementiert. Mädchen haben zu Hause mehr Bücher, sie lesen mehr und lernen früher schreiben. "Wenn man Klassenhefte aufschlägt, kann man sofort sagen, ob sie von einem Mädchen oder Jungen sind", sagt Ulrich Boldt, Lehrer an der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Bielefeld: "Jungen haben einfach die schlechtere Schrift."

Die Eltern fördern, oft unbewusst, die Ungleichheit, die Schulen verstärken sie noch. Noch immer bestimmt der Frontalunterricht das Geschehen. Er, so unterstreicht Jürgen Budde, ist störanfälliger als etwa die Gruppenarbeit. Lehrer aber wollten Ruhe und Ordnung. "Sie ermahnen deshalb ständig störende Jungen und belohnen zugleich das Wohlverhalten und das Interesse der Mädchen", sagt Wilfried Bos.

Für den Dortmunder Schulforscher rächen sich damit auch Fehler und Versäumnisse in der Lehrerausbildung. Über Jahrzehnte habe man den angehenden Pädagogen eingetrichtert, dass die Mädchen benachteiligt seien. Das bleibe gerade bei Lehrerinnen nicht ohne Folgen: "Sie schauen bei Mädchen einfach genauer hin", hat Bos festgestellt. Und wenn an vielen Grundschulen fast alle Lehrer weiblich seien, schaue eben kaum noch jemand auf die Jungen.

Der hohe Frauenanteil in vielen Kollegien vermittelt nach Ansicht mancher Wissenschaftler zudem eine einseitige Lebenswelt, die Interessen von Jungs würden zu wenig berücksichtigt. Beispielsweise könnten gerade Pädagoginnen oft nicht damit umgehen, wenn zwei Jungen sich auf dem Schulhof rauften, erzählt Wilfried Bos; sie empfänden dies gleich als Bedrohung statt es in den Unterricht einzubeziehen und etwa in einem Rollenspiel zu thematisieren. "Jungen müssen aber auch einmal raufen dürfen, ohne dass sie gleich als sozial auffällige Störenfriede behandelt werden", meint Bos.

Ohne Machogehabe

Wenn man, wie Forscher an der Bielefelder Laborschule, Schüler fragt, was sie sich von der Schule wünschen, antworten sie: klare Regeln und Strukturen, in kleinen Schritten lernen, mit mehr Wettbewerb untereinander, mit mehr Bewegung und mit mehr Rückmeldungen durch die Lehrer. Diese Wünsche, fordern Jungenforscher, sollten weit stärker als bisher im Unterricht berücksichtigt werden. Zudem sollten Lehrer verschiedene Zugänge zu Wissen schaffen, mehr Computer statt Theater einsetzen und bei der Auswahl von Büchern und Projekten stärker auf die Interessen und die Lebenswelt der Jungen eingehen.

Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die Koedukation nicht versagt hat und Mädchen und Jungen nicht zumindest phasenweise wieder getrennt voneinander unterrichtet werden sollten. An der Bielefelder Niemöller-Gesamtschule hat Ulrich Boldt damit gute Erfahrungen gemacht. Wenn die Jungen im Fach Haushaltslehre unter sich sind, räumten sie sogar das Geschirr von den Tischen. Man müsse auch den Jungs einen geschützten Raum anbieten, in dem sie sich ohne Machogehabe und Klassenclownspiele entfalten können, sagt Boldt.

Jungenforscher Budde hingegen plädiert dafür, den Unterricht grundsätzlich individueller zu gestalten, anstatt nur auf das Geschlecht zu schauen. Herkunft und sozialer Hintergrund seien für den Lernerfolg noch wichtiger - und in diesem Punkt haben es Mädchen und Jungen hierzulande bekanntlich gleichermaßen schwer.

© SZ vom 13.3.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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