Schulabbrecher:Zeugnis des Scheiterns

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Alle Bemühungen engagierter Lehrer verpuffen, wenn Jugendliche aus Frust das Lernen verweigern - und erst gar nicht zum Unterricht kommen.

Tanjev Schultz

Es gab Zeiten, da war es nicht so schlimm, die Schule abzubrechen. Mitte der sechziger Jahre verließ jeder Fünfte die allgemein bildende Schule ohne Abschluss.

Einige Kinder gehen einfach nicht zur Schule. Und reduzieren damit ihre Aussicht auf eine Lehrstelle. (Foto: Foto: dpa)

Eine gute Ausbildung und eine Karriere waren dennoch möglich. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau machte einmal Jugendlichen beim Besuch einer Lehrstellenmesse Mut, indem er sich als Schulabbrecher präsentierte.

Rau hatte nach dem Krieg das Gymnasium vorzeitig verlassen und eine Lehre als Buchhändler begonnen.

Doch die Zeiten haben sich gewandelt.

Ohne Zeugnis geht fast nichts mehr. Hinter hohen Abbrecherquoten verbergen sich heute persönliche Dramen und ein soziales Problem gewaltigen Ausmaßes.

Das Institut der deutschen Wirtschaft beziffert die Folgekosten einer "mangelnden Effizienz des Schulsystems", die sich in hohen Zahlen von Sitzenbleibern und Abbrechern ausdrücke, auf jährlich 3,7 Milliarden Euro.

Jedes Jahr beenden etwa 80.000 junge Erwachsene die Schule, ohne ein Zeugnis in den Händen zu halten. Bundespräsident Horst Köhler muss das so schockiert haben, dass er mit dieser Zahl seiner Berliner Rede begann.

Fast neun Prozent eines Jahrgangs sind Schulabbrecher; bei Jungen und unter Einwanderer-Kindern ist der Anteil noch größer. Besonders viele Abbrecher gibt es in Sachsen-Anhalt und den Stadtstaaten.

Trostlos ist die Lage an vielen Hauptschulen, hier haben es die Lehrer mit schulmüden Jugendlichen zu tun, die wissen, dass sie selbst mit einem Hauptschulabschluss Mühe haben dürften, eine Lehrstelle zu finden.

Ihren Frust belegt die neue Shell-Jugendstudie: Die Mehrheit der Hauptschüler ist pessimistisch, nur 38 Prozent blicken mit Zuversicht in die eigene Zukunft; bei Gymnasiasten sind es 57 Prozent.

Viele Jugendliche erleben den Besuch einer Hauptschule als Makel. Die Göttinger Soziologin Heike Solga, Autorin einer Studie über gering Qualifizierte, spricht von "institutioneller Aussonderung".

Die moderne Bildungsgesellschaft sei eine "Zeugnisgesellschaft" - wer nicht mithalten kann, dessen Selbstachtung ist in Gefahr. Solga sieht einen "Teufelskreis" aus Abwertung, unzureichender Förderung und sinkender Motivation der Schüler.

Meistens haben Schulabbrecher zuvor dauerhaft geschwänzt.

Lange Fehlzeiten seien ein großes Problem, sagt Wolfgang Lüdtke, Leiter der Kepler-Oberschule, die Horst Köhler als Kulisse für seine Rede wählte. "Viele Schüler können wir einfach deshalb nicht fördern, weil sie gar nicht da sind."

Am Deutschen Jugendinstitut in München, das ein Netzwerk zur Prävention von Schulverweigerung aufgebaut hat, appelliert Irene Hofmann-Lun an Eltern, Lehrer und Politiker, Schwänzen als Hilferuf zu verstehen.

Werde zu spät reagiert, werde es immer schlimmer: Je öfter ein Schüler im Unterricht fehlt, desto unangenehmer wird es für ihn, wieder hinzugehen. Schulen müssten sich stärker für die Lebensumstände öffnen, in denen die Jugendlichen stecken, sagt Hofmann-Lun.

Es reiche nicht, die Polizei zu rufen und Schüler mit dem Streifenwagen wieder zum Unterricht zu fahren.

Angst vor dem Elend

Lehrern fällt es oft schwer, auf schulmüde Kinder zuzugehen - es fehlt die Zeit, der Lehrplan drückt, da sind Ängste im Umgang mit dem Elend, das in vielen Familien herrscht.

An der Universität Bielefeld gibt es deshalb einen Modellversuch, in dem Lehramtsstudenten schon während ihrer Ausbildung Jugendliche kennen lernen, die aus dem Schulsystem herausgefallen sind.

Mehr Hilfen für Schulverweigerer soll ein Programm des Bundesfamilienministeriums bringen. Bis 2007 werden an 50 Orten "Koordinierungsstellen" eingerichtet, die eine bessere Betreuung organisieren sollen.

Ein Vorbild könnten Projekte wie "Come Back" in Hamburg sein. Dort ist für Kinder, die dauerhaft geschwänzt haben, eine Lerngruppe gegründet worden; acht Schüler wohnen auch in einer Wohngemeinschaft zusammen.

Schritt für Schritt zum Unterricht

Ziel ist aber nicht die weitere Isolation, sondern eine behutsame Integration. Die Pädagogen arbeiten eng mit einer regulären Schule zusammen; Schritt für Schritt sollen die Jugendlichen zurück in den Unterricht geführt werden.

Auch in Neukölln, dem Berliner Bezirk, in dem Köhler seine Rede hielt, gibt es noch Hoffnung, die Zahl der Abbrecher zu senken. An der Kurt-Löwenstein-Hauptschule schien die Lage aussichtslos zu sein.

"Jeder sechste Jugendliche kam nicht an der Schule an", sagt Paul Kleinert. Vor drei Jahren wechselte der Sozialpädagoge an diese Schule.

Störer und Schwänzer werden nun intensiv betreut, zwei Drittel der Verweigerer besuchen wieder den Unterricht.

Mittlerweile arbeiten hier vier Sozialarbeiter, unter ihnen türkische Muttersprachler. Sie kümmern sich nicht nur um die Schüler, sondern auch um die Eltern.

© SZ vom 22.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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