Pisa:Scharfer Blick ins Klassenzimmer

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Von der Internetnutzung bis zum Unterrichtsklima: Was die Schulstudie über Mathematik und Lesen hinaus noch alles erforscht hat.

Von Marco Finetti

Deutschlands Schüler haben sich in der zweiten Pisa-Studie leicht verbessert und sind nun internationaler Durchschnitt. Die größten Probleme des Bildungssystems aber sind seit Pisa eins vor drei Jahren nicht kleiner geworden, vor allem nicht in Punkto Chancengleichheit.

Mit dieser janusköpfigen Botschaft bestimmte der neueste Schulleistungsvergleich der Organisation für wirtschaftliche Organisation und Zusammenarbeit (OECD) die Schlagzeilen der vergangenen Woche und löste hier zu Lande eine neuerliche Grundsatzdebatte aus, die vorerst in der Forderung gipfelte, die Hauptschule abzuschaffen.

Dabei hat Pisa ("Programme for International Students Assessment") weit mehr zu bieten als die weltweiten Länder-Rankings in den untersuchten Kategorien Mathematik, Naturwissenschaften, Lese-, Schreib- und Textverständnis und Problemlösen, auf die sich das öffentliche Interesse schon vor der offiziellen Präsentation der Ergebnisse richtete. Und auch mit der Beschreibung des beschämend engen Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Lernerfolg hören die Pisa-Forscher nicht auf.

In seinem Abschlussbericht präsentiert das deutsche Pisa-Konsortium auf mehr als 400 Seiten und mit über 100 Tabellen und Grafiken vielmehr auch Daten und Einschätzungen aus zahlreichen anderen Bereichen: Untersucht wurde, wie viele Minuten Schüler Computer- und Internet nutzen ebenso wie Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen oder das viel zitierte Unterrichtsklima. So wirft Pisa einen ebenso detaillierten wie scharfen Blick auf Schule und Unterricht in Deutschland - und zeigt eine Reihe weiterer Probleme auf.

Mädchen als Verlierer

Deutschland ist das Land der großen Bildungsunterschiede. In keinem anderen Industriestaat liegen gute und schlechte Schulen, Kinder aus reichen und armen Familien, einheimische und ausländische Schüler in ihren Leistungen so weit auseinander. Größere Differenzen als bei den meisten anderen Pisa-Teilnehmern bestehen aber auch zwischen den Geschlechtern.

Bei der ersten Pisa-Studie vor drei Jahren, in deren Mittelpunkt das Lese-, Schreib- und Textverständnis stand, waren die Jungen die Verlierer. Dieses Mal war es die Mathematik, und Verlierer sind die Mädchen.

Die 15-jährigen Schülerinnen hier zu Lande zeigen an allen Schulformen schlechtere, teilweise deutlich schlechtere Leistungen als ihre männlichen Altersgenossen. Zugleich gehen sie mit weniger Selbstvertrauen und mehr Angst an die Lösung mathematischer Probleme heran.

"Es scheint dem deutschen Schulwesen in geringerem Maße als anderen Ländern zu gelingen, Geschlechterunterschiede in diesen Haltungen zur Mathematik auszugleichen", heißt es im deutschen Pisa-Abschlussbericht. Und: Mit Blick auf die späteren Berufsentscheidungen müsse sich das schnell ändern.

Die schwächeren Leistungen der Schülerinnen fallen den Pisa-Forschern umso mehr auf, als die Mädchen in der Kategorie Problemlösen, die der Mathematik ähnelt, besser, und häufig sogar auch besser als die Jungen abschneiden. Die ganz offensichtlich vorhandenen analytischen Fähigkeiten der Schüler werden an den deutschen Schulen zu wenig in Fachkompetenz umgesetzt - dieses allgemeine Ergebnis von Pisa gilt demnach besonders für die Schülerinnen.

Die Handlungsanweisung der Pisa-Forscher an Politiker und Pädagogen ist unmissverständlich: "Vor dem Hintergrund eines großen Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften gerade in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen sollte das bisher ungenutzte Potenzial der Mädchen in verstärktem Maße ausgeschöpft werden". Möglicherweise könnte die alte Forderung nach getrennten Unterrichtsangeboten für Mädchen und Jungen neuen Auftrieb erhalten.

Computer als Zeitvertreib

In Mathematik, den Naturwissenschaften und selbst beim Lesen mögen sich die deutschen Schulen und Schüler seit der ersten Pisa-Runde verbessert haben. Ausgesprochen schlecht da stehen sie aber weiter bei der Nutzung von Computern und Internet im Unterricht.

Dabei zeigen, was zunächst paradox erscheint, die jungen Deutschen ein "hoch überdurchschnittliches Interesse" an PC und allem, was mit diesen zu tun hat. Nur hat dieses Interesse fast nichts mit Schule und Unterricht zu tun, wie die Pisa-Forscher einigermaßen konsterniert feststellen mussten.

Trotz erheblicher Investitionen und zahlreicher Förderprogramme spiele die Schule hier zu Lande beim Erwerb computerbezogener Kenntnisse nur eine geringe Rolle, heißt es im deutschen Pisa-Bericht. Zusammen mit Belgien, Korea und der Schweiz gehört Deutschland demnach zu den Ländern, in denen die Computernutzung im Unterricht schon rein quantitativ "am wenigsten verbreitet ist". Noch besorgniserregender aber ist der "qualitative" Befund.

Weit stärker als ihre Altersgenossen in den meisten anderen Industriestaaten sehen die 15-Jährigen in Deutschland Rechner vor allem als Unterhaltungsspiel oder Zeitvertreib an - und lernen im Unterricht zu wenig, dass man sie auch anders nutzen kann.

Fast jeder vierte Schüler habe den PC und das Internet noch nicht "sinnvolles Hilfsmittel im Alltag oder als Lernwerkzeug für die Schule" entdeckt beziehungsweise entdecken können. "Für diese Gruppen sind erhebliche Probleme in ihrem zukünftigen Ausbildungs- und Berufsleben zu befürchten", warnen die Pisa-Forscher.

Ihre Forderung ist erneut eindeutig: "In den Schulen müssten den Jugendlichen in sehr viel stärkerem Umfang als bisher sinnvolle Nutzungsmöglichkeiten neuer Medien nahe gebracht werden."

Disziplin als Reizthema

Besonders ausführlich beschäftigten sich die deutschen Pisa-Forscher schließlich mit Unterricht und Wohlbefinden. Die äußeren Rahmenbedingungen sind dabei "in vielerlei Hinsicht unauffällig":

Mit gut drei Stunden Mathematikunterricht in der Woche liegt Deutschland knapp unter dem OECD-Durchschnitt (3,6 Stunden), die Klassen sind hier zu Lande in etwa genauso groß oder klein wie in den meisten Industriestaaten, und auch die Ausstattung der Schulen wirkt sich nicht besonders positiv oder negativ aus. Eher schon macht sich vielerorts ein Lehrermangel bemerkbar; er wird von den Schulleitern als "Gefahr für das Lernen" betrachtet.

Deutlich anders - und schlechter - ist es hier zu Lande aber um das Unterrichtsklima bestellt. Deutschlands Schüler sehen sich von ihren Lehrern erheblich weniger unterstützt als ihre Altersgenossen in den anderen Pisa-Staaten.

Besonders Gymnasiasten fühlen sich mit dem relativ anspruchsvollen und auf Selbständigkeit zielenden Unterricht ihrer Schulform vielfach alleine gelassen. Hauptschüler dagegen klagen vergleichsweise wenig über mangelnde Zuwendung.

Die Lehrer beschweren sich ebenfalls stärker als ihre Kollegen im Ausland - und zwar besonders über die Arbeitshaltung ihrer Schüler. Vor allem an den Hauptschulen habe die Disziplin seit der ersten Pisa-Studie noch weiter abgenommen, und nur an den Gymnasien habe sie sich leicht gebessert.

Die meisten Schüler sehen das - erwartungsgemäß - anders, ihnen zufolge geht es in den Klassenzimmern ruhiger und ordentlicher zu als früher. An den Hauptschulen räumen jedoch selbst die Schüler ein, dass heutzutage noch mehr im Unterricht gestört wird als vor drei Jahren.

Nach Überzeugung der Pisa-Forscher müssen Deutschlands Schulen erheblich mehr Zeit und Anstrengung darauf verwenden, "Disziplinprobleme, mangelnde Kooperation oder Defizite im sozialen Klima zu bearbeiten". Dies könne etwa durch die Arbeit an Schulprofilen geschehen. Wie wichtig dies sei, hätten die meisten Schulen jedoch noch nicht erkannt.

Der deutsche Pisa-Abschlussbericht ist auch als Buch erhältlich:

Pisa 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs; Waxmann-Verlag Münster, ISBN-Nr: 3-8309-1455-5; 19,90 Euro.

© SZ vom 13.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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